Die Corona-Krise lässt die Kluft zwischen den Generationen größer werden. Die Humanbiologin Barbara Plagg fordert, gemeinsam mit einem interdisziplinären Team, eine generationenübergreifende Gesundheitspolitik für das Gesundheitssystem.
Kinder und Jugendliche bekommen die Kollateralschäden der Corona-Pandemie stärker zu spüren als andere Generationen. Durch die wiederholten Schließungen der Bildungseinrichtungen sind über einen langen Zeitraum hinweg wichtige Förder- und Entwicklungsmöglichkeiten weggebrochen. Zusätzlich nimmt beispielsweise der Schutz vor häuslicher Gewalt ab, für Kinder in der Ganztagsbetreuung entfällt die Möglichkeit einer warmen Mahlzeit und pandemiebedingt werden Gesundheitsleistungen im Kindes- und Jugendalter reduziert oder wiederholt verschoben.
„Die Corona-Maßnahmen, die zum Schutz vor der Verbreitung des Virus getroffen werden, lassen die Kluft zwischen den Generationen, also die ungleiche Verteilung von Privilegien und Ressourcen, größer werden. Wir sind zwar alle gerade im selben Sturm, sitzen aber nicht im selben Boot.“ Das sagt Barbara Plagg, Humanbiologin am Institut für Allgemeinmedizin an der Landesfachhochschule für Gesundheitsberufe Claudiana. Gemeinsam mit Kollegen aus den Bereichen Allgemeinmedizin, Sozialmedizin, Präventivmedizin, Anthropologie und Humanökologie (Jörg Oschmann, Adolf Engl, Giuliano Piccoliori, Andreas Conca und Klaus Eisendle) hat sie einen Fachartikel verfasst, in dem sie eine generationenübergreifende Gesundheitspolitik fordert. Der Artikel „We’re in This Together: Intergenerational Health Policies as an Emerging Public Health Necessity“ wurde im Dezember 2020 im international renommierten Wissenschaftsmagazin Frontiers veröffentlicht.
Darin analysieren die Autor:innen die gesellschaftspolitische Reaktion auf unterschiedliche Gesundheitsbedrohungen. Im Besonderen werden die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie und jene des Klimawandels miteinander verglichen. „Die globale Reaktion auf diese — in ihrer Unmittelbarkeit natürlich sehr unterschiedlichen — Gesundheitsbedrohungen gibt Einblick in die ungleiche Gewichtung der Generationen und die Machtasymmetrie in der öffentlichen Gesundheitspolitik. Diese wird von den meisten Regierungen, so auch hier in Italien, vor dem Hintergrund einer neoliberalen Gesellschaft mit freiem Markt, Privatisierung, Deregulierung und Individualisierung beschlossen und umgesetzt“, betont Barbara Plagg.
Was die beiden Bedrohungen grundlegend voneinander unterscheidet, ist die Hauptrisikogruppe: Bei COVID-19 sind es Erwachsene und Ältere, während das Risiko für Kinder sehr gering ist — die Folgen des Klimawandels werden hingegen die Jüngsten am schlimmsten treffen. Doch während vor allem Kinder und Jugendliche durch die COVID-19-Maßnahmen unbeabsichtigte Nachteile erleiden, würden Strategien gegen den Klimawandel vor allem Erwachsene und das Wirtschaftssystem betreffen, erkennt Plagg. Aus diesem Grund unterscheidet sich die Handhabe in der gesellschaftspolitischen Umsetzung der Präventionsmaßnahmen deutlich: „Während zur Eindämmung des Virus transnationale Regelungen und autokratische Entscheidungen getroffen wurden, inklusive strenge Sanktionen bei Nichteinhaltung der COVID-19-Maßnahmen, gibt es keine vergleichbaren Strafmaßnahmen, wenn Staaten etwa den Pariser Vertrag nicht einhalten, was sie de facto nicht tun“, erläutert die Humanbiologin. In unserer ohnehin zugunsten ökonomischer Privilegien verzerrten Gesellschaften folgt die Benachteiligung einem starken intergenerationellen Gradienten, dessen Höhepunkt in Kindheit und Jugend zu finden ist.
Plagg und Co. fordern, dass der Begriff „intergenerationelle Gesundheit“, der bisher vorwiegend in der Epigenetik, aber kaum in der Sozial- und Präventionsmedizin verwendet wurde, als neues Analysemodell in der Gesundheitspolitik eingesetzt werden muss. Das bedeute, „dass Maßnahmen nicht nur nach ihrer unmittelbaren Wirksamkeit innerhalb der vordergründig betroffenen Zielgruppe bewertet und gestaltet werden, sondern langfristige soziale, ökologische und wirtschaftliche Dynamiken auf unterschiedliche Generationen mitgedacht werden.“ Ökologische und soziale Gesundheitsrisiken, deren Folgen langfristig sind, können so in der Gegenwart erkannt und primärpräventiv angegangen werden.
Um die intergenerationellen Unterschiede bei den Folgeschäden der Pandemie-Bekämpfung zu verringern, fordern Plagg und ihr Team zudem interdisziplinäre und gender-balanced Arbeitsgruppen, da Frauen in der Regel sozialen und gesundheitlichen Themen mehr Aufmerksamkeit schenken und andere Krisenbewältigungsstrategien als Männer einsetzen. Zudem muss der Umweltschutz eine zentrale Rolle spielen: Wenn gesundheitliche Maßnahmen die Umwelt langfristig belasten, führen die Umweltschäden bzw. die unkontrollierte Mensch-Umwelt-Interaktion zu neuen Gesundheitsbedrohungen. Langfristige Maßnahmen müssen „generationenorientiert“ sein, damit sie auf die unterschiedlichen Notwendigkeiten, Bedürfnisse und Möglichkeiten verschiedener Personengruppen eingehen können. Absehbare Sekundärschäden müssen frühzeitig erkannt und ausreichend abgefangen werden, die Ressourcen dafür müssen aufgrund von Notwendigkeiten und nicht aufgrund wirtschaftlicher Präferenzen vergeben werden. „Die bereits viel zu lange durchgezogene Notlösung der Schulschließungen kann auf Dauer keine Präventionsstrategie sein, sondern ist selbst als Gesundheitsbedrohung zu verstehen”, so Plagg.
Das Konzept der „intergenerationellen Gesundheit“ ist dabei nicht nur eine Antwort auf die Notwendigkeiten der aktuellen Krise, sondern sollte stets Anwendung finden — denn Gesundheit ist durch den Einfluss sozialer und umweltbedingter Auswirkungen auf die globalisierte Welt nicht mehr nur individuelles Gut, sondern zur sozialen und kollektiven Herausforderung geworden. Damit kommende Gesundheitsbedrohungen besser gemeistert werden könne und keine Generation zu „Krisenverlierern“ wird, gilt es deshalb, aus der COVID-19-Pandemie zu lernen. Link zum Artikel: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fhumd.2020.566705/full