Angesichts der kommenden Delta-Welle erscheinen die Modalitäten der Fußball-Europameisterschaft eine unübersehbare Gefahr für die nächste Ausbreitungswelle der Pandemie, schreibt der Mediziner Michael M. Kochen in seiner Juni-Newsletter.
Der deutsche Mediziner Prof. Dr. med. Michael M. Kochen präsentiert in seiner Newsletter MMK-Benefits regelmäßig hausärztlich relevante Studienergebnisse. Prof. Kochen. hat seine Newsletter dem Institut für Allgemeinmedizin und Sonderausbildung zu Verfügung gestellt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
bei hochsommerlichen Temperaturen melde ich mich noch einmal vor einer längeren Sommerpause. Bevor ich Ihnen einige neue Studien in Kurzform vorstelle, will ich ein Thema ansprechen, das uns spätestens im Herbst noch einige Sorgen bereiten dürfte: Die Delta-Welle … und ihre Zusammenhänge mit der laufenden Fußball-Europameisterschaft.
Kurz zur neuen Bezeichnung der Virusvarianten. Die Umbenennung durch die WHO hat das Ziel, die Länder, in denen eine Variante ursprünglich entdeckt wurde, nicht durch konstante Nennung als vermeintliche Virusschleuder zu diskriminieren.
Ich beginne einmal chronologisch:
Am 14. September 2016 wurde in Athen der 53-jährige slowenische Fußballfunktionär (und Rechtsanwalt) Aleksander Čeferin zum Präsidenten der UEFA gewählt – mit Unterstützung des DFB und praktisch aller osteuropäischen Verbände. 2019 erfolgte die Wiederwahl.
Die Ausrichtung der diesjährigen Europameisterschaften wurde maßgeblich von Čeferin und seinen Unterstützern organisiert. Mit dem Ergebnis, dass z.B. die beiden Städte Bilbao und Dublin ausgeschlossen wurden, weil sie in Coronazeiten keine Zuschauer:innen im Stadion gewährleisten konnten (auch München wurde unter massiven Druck gesetzt und letztlich nur wegen einer Teilöffnung des Stadions zugelassen). Dafür aber wurde die aserbeidschanische Hauptstadt Baku auserkoren – bekanntlich ein Hort der Menschenrechte.
Über die Verbindungen des autokratischen Präsidenten Ilham Aliyev zu einigen Abgeordneten des Bundestages können Sie bei der Deutschen Welle nachlesen („KORRUPTION: Wie funktioniert das “System Aserbaidschan?” https://t1p.de/8ezx).
Zur abstoßenden Rolle eines weiteren Autokraten in diesem Schmierentheater, des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, erschien eine lesenswerte Reportage von Peter Ahrens und Anne Armbrecht im Spiegel https://t1p.de/bqqn (Zahlschranke).
Keine Angst, ich werde jetzt keine ausführliche Recherche berichten … über die mutmaßlichen (das Attribut setze ich dazu, um mich vor rechtlichen Anfeindungen zu schützen) kriminellen Aktivitäten der europäischen Fußballverbände und des Weltverbandes FIFA. Es geht mir um etwas ganz anderes:
Um die gesundheitlichen Folgen einer menschenverachtenden Verbandspolitik, die Sie, liebe Leserinnen und Leser, bereits im Jahre 2020 gespürt haben und im Herbst noch erleben dürften.
Michael M. Kochen
Am 19. Februar 2020 fand im Mailänder San Siro Stadion das Champions League-Spiel Atalanta Bergamo – FC Valencia statt, das in die jüngsten Geschichtsbücher auch als Partita zero, Game Zero oder Spiel null einging: In den Tagen nach dem Spiel entwickelte sich die Provinz Bergamo zu einem Hotspot der COVID-19-Pandemie in Italien, mit mehr als 1.000 Toten. Obwohl bis heute nicht letztlich geklärt werden konnte, welche Rolle dieses Fußballspiel in der Verursacherkette der Katastrophe in der norditalienischen Provinz gespielt hat, könnte man ja daraus lernen: Angesichts der kommenden Delta-Welle erscheinen die Modalitäten der Fußball-Europameisterschaften eine unübersehbare Gefahr für die nächste Ausbreitungswelle der Pandemie. Vielleicht nicht so sehr durch die Zuschauerfüllung der Stadien, (Ferenc-Puskás-Stadion, Budapest) sondern an erster Stelle durch den „munteren“ Tourismus von zehntausenden Fans zwischen den Austragungsorten.
Gunter Gebauer, Professor für Sportsoziologie an der FU Berlin, hat die Abläufe vom Februar letzten Jahres bis heute und die mehr als zwielichtige Rolle der Fußballverbände sorgfältig untersucht und dem Deutschlandfunk ein aufschlussreiches Interview gegeben https://t1p.de/5kn4.
Die Ausbreitung der Delta-Variante:
Im Folgenden zeige ich Ihnen einige wenige Daten zur Ausbreitung der (ursprünglich in Indien entdeckten) Delta-Variante: Zunächst eine Grafik der durchgeführten Sequenzierungen, u.a. in 24 europäischen Ländern https://t1p.de/joc0.
In der Grafik wird der Wert der ursprünglichen Wildvirusvariante mit „0“ angenommen.
- Der R-Wert von B1.1.7 (Alpha) liegt rund 25% darüber,
- der R-Wert von B.1.617.2 (Delta) liegt hingegen um ca. 100% darüber
„Increased transmissibility and global spread of SARS-CoV-2 variants of concern as at June 2021“ https://t1p.de/0gzw.
In Deutschland soll die Delta-Variante momentan 6% der Sequenzierungen ausmachen (Experten sprechen von deutlich mehr als 10%). Die folgende Grafik des RKI stammt allerdings vom 16.6.2021 und gibt Ihnen einen Eindruck von der Ausbreitungsgeschwindigkeit. Beunruhigend…
Im UK macht Delta inzwischen 99% aller sequenzierten Fälle aus, die Inzidenzzahlen wie auch stationären Aufnahmen von Covid-19-Erkankten steigen deutlich an, s.a. https://t1p.de/kth3! Die Entwicklung in Portugal geht in die gleiche Richtung https://t1p.de/gxqx.
Die Daten zeigen, dass die Delta-Variante deutlich ansteckender als die in Deutschland noch überwiegende Alpha-Variante ist und auch eine höhere Pathogenität aufweist. Eine Impfung schützt zumindest vor einem schweren Verlauf – aber nur, wenn mindesten sieben Tage nach der zweiten Impfdosis vergangen sind.
Wie bereits im Benefit vom 25. Mai dargestellt (Studie von Public Health England https://t1p.de/dkiw) verringerte sich im Vergleich zu B.1.1.7 die Wirksamkeit gegen symptomatische Erkrankungen bei lediglich einer Impfdosis auf niedrige 33% (Biontech von 49.2% auf 33.2%, bei AstraZeneca von 51.4% auf 32.9%).
Nach der zweiten Dosis verringerte sich die Wirksamkeit hingegen nur geringfügig (bei Biontech von 93.4% auf 88%, bei AstraZeneca von 66.1% auf 60%).
NB: Zur Definition von Wirksamkeit einer Impfung: https://t1p.de/jpm9.
Quintessenz:
Angesichts der Entwicklung von besorgniserregenden Virusvarianten erscheint – nicht erst seit heute – die Politik der Fußballverbände, Hand in Hand mit skrupellosen Politikern mehr als verantwortungslos. Sie riskiert die Gesundheit und das Leben, nicht nur vieler tausender Fußballfans und deren Familien.
Die Auswirkungen dürften Hausärztinnen und Hausärzte spätestens im Herbst spüren.
In meinen Augen gibt es eine Institution, die sich mit diesen Machenschaften auseinandersetzen müsste: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Eine vollständige Impfung ist zur weitgehenden Vermeidung eines schweren Verlaufs von enormer Wichtigkeit. Stand heute haben in Deutschland 52% die erste und 33% die zweite Dosis erhalten. Wer glaubt, eine Impfdosis werde schon reichen (und die Pandemie sei ja, wie im Sommer 2020, sowieso schon vorüber) geht ein explizit hohes Risiko ein.
Kurzmeldungen
So wichtig und segensreich Corona-Impfstoffe sind, sie haben doch einige inhärente Nachteile, z.B.:
- die Unwägbarkeiten der Produktion (zuletzt Curevac, z.B. https://science.orf.at/stories/3207186/),
- grundsätzlich immer drohende Lieferverzögerungen (aktuell Biontech),
- aber auch Unsicherheiten der Effektivität gegen künftige Varianten.
Hätte ich einen Wunsch frei, wäre es der nach einem sicher wirksamen, möglichst oral oder nasal applizierbaren Arzneimittel. Es sollte unmittelbar nach Diagnose einer Covid-19-Erkrankung gegeben werden und komplizierte Verläufe zuverlässig verhindern. Leider haben wir (noch) kein solches Medikament – das könnte sich aber vielleicht in absehbarer Zeit ändern.
Ich stelle Ihnen in aller Kürze zwei Arzneimittel-Studien vor, die zwar noch weit vor ihrer Anwendung beim Menschen sind, aber vielleicht den richtigen Weg weisen.
Amerikanische Wissenschaftler aus Texas haben in vitro einen Antikörper der Klasse IgM konstruiert, der gegenüber der Ausgangssubstanz (IgG) eine um den Faktor 230 stärkere therapeutische Potenz gegen diverse Virusvarianten hat. Er kann in Sprayform als Einmaldosis nasal verabreicht werden – bislang aber erst bei Mäusen (erprobt sechs Stunden vor und sechs Stunden nach einer Infektion der Tiere). Die Virusmenge in den Lungen der Tiere war zwei Tage nach Therapie dramatisch gesunken.
„Nasal delivery of an IgM offers broad protection from SARS-CoV-2 variants“ https://t1p.de/nkd2.
Eine weitere, vielversprechende Substanz scheint ein oral zu verabreichender Enzymhemmer zu sein, der ebenfalls von US-amerikanischen Wissenschaftlern entwickelt wird. SARS-CoV-2 benötigt die sog. RNA-abhängige RNA Polymerase, um sich nach Zelleintritt selbst zu kopieren. Schaltet man dieses Enzym aus, unterbleibt die Weiterverbreitung. Ein Arzneimittel namens Tempol (ein Nitroxid), das in den „Stoffwechsel“ des Enzyms eingreift, wird seit 2008, intensiv aber erst seit 2018, in Tierversuchen u.a. zur Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen erprobt und hat offenbar keine ernsthaften Nebenwirkungen.
„Fe-S cofactors in the SARS-CoV-2 RNA-dependent RNA polymerase are potential antiviral targets“ https://t1p.de/xx5p.
Einige andere Arzneimittel, bei denen man auf einen therapeutischen Effekt setzte, sind hingegen in Studien als unwirksam befunden worden. Dazu zählt Acetylsalicylsäure (Einmaldosis von 150mg/d).
In einem RCT aus dem britischen Revovery-Fundus https://www.recoverytrial.net/ erhielten 7351 stationär aufgenommene Patienten Acetylsalicylsäure und 7541 Patienten die übliche Versorgung. Innerhalb von 28 Tagen starben 1.222 (17%) Teilnehmer im ASS-Arm, und 1.299 (17%) in der Kontrollgruppe.
Das noch nicht begutachtete Papier können Sie auf einem Preprint-Server herunterladen https://t1p.de/msci.
Ob ASS, frühzeitig bei ambulanten Patienten eingesetzt, vielleicht doch eine Wirksamkeit entfaltet, ist damit allerdings noch nicht beantwortet.
Eine weitere Substanz, in die Hoffnung gesetzt wurde, ist Colchizin. Ein großer, multinationaler RCT randomisierte 2.235 hausärztliche Personen in den Colchizin-Arm (2x 0.5mg/d für drei Tage, anschließend 0.5mg/d für weitere 27 Tage) und 2.235 in den Plazebo-Arm. Der Endpunkt, eine Kombination aus Tod oder Krankenhausaufnahme, wurde bei 4.6% in der Interventionsgruppe und bei 6.0% in der Kontrollgruppe erreicht (statistische Signifikanz verfehlt).
Die Originalarbeit im Lancet Resp Dis finden Sie unter https://t1p.de/ylnj.
Wie lange sind Genesene geschützt?
Ich werde immer wieder mit der Frage angeschrieben, wie lange denn der Schutz durch neutralisierende Antikörper bei Personen anhält, die eine Covid-19-Erkrankung durchgemacht haben.
Eine Seroprävalenzstudie aus den USA könnte dazu zumindest einige Anhaltspunkte liefern. Untersucht wurden 39.086 Personen aller Altersgruppen, deren (positive) PCR und Antikörpertiter zwischen März 2020 und Januar 2021 in einem Laborregister dokumentiert wurden. Drei Wochen nach Erkrankungsbeginn bestand bei 90% der Personen Seropositivität, nach 293 Tagen nur noch bei 68,2% (N-Antikörper) bzw. nach 300 Tagen bei 87.8% (S-Antikörper). Je jünger eine Person, desto länger waren Antikörper nachweisbar.
„A population-based analysis of the longevity of SARS-CoV-2 antibody seropositivity in the United States“ https://t1p.de/8o8m.
Dass die Adipositas einen der stärksten Risikofaktoren für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung darstellt, ist seit geraumer Zeit bekannt. Ab wann aber beginnt dieses Risiko?
Eine britische Kohortenstudie aus dem hausärztlichen Bereich hat zu dieser Frage nicht weniger als 6.910.695 Personen aus der Q-Research-Datenbank analysiert. Ergebnis: Das linear ansteigende Risiko beginnt ab einem BMI von über 23 – aber auch untergewichtige Menschen mit einem BMI <20 sind gefährdet.
„Associations between body-mass index and COVID-19 severity in 6·9 million people in England“ https://t1p.de/yqf3.
„Masken verursachen Geruchs- und Geschmacksstörungen“
- Das Tragen von Masken war schon vielfach Thema in den Benefits, zuletzt am 14. Mai d.J. Wenn man sich die Seiten von Zweiflern, Ablehnern, Querdenkern oder Verschwörern ansieht, kann selbst einen Abgebrühten wenig überraschen.
Wenn man aber einen Text der dritten Art in einer seriösen Zeitung liest, ist das schon etwas anderes. Die Entscheidung der Leserbriefredaktion der Süddeutschen Zeitung, den nachfolgend zitierten Brief eines Arztes abzudrucken, hat mich regelrecht erschüttert. Welche Überlegungen diesem Entschluss zugrunde liegen, weiß ich nicht.
Der Leserbriefschreiber ist Chirurg und betreibt eine Privatpraxis für kosmetische Chirurgie in Flensburg. Seine Behandlungsschwerpunkte sind mit Augenbrauen- / Lidkorrekturen, Faltenbehandlungen, Brustoperationen, Ohrenkorrektur, Schweißdrüsenabsaugung, Oberarmstraffung, Handverjüngung oder Schamlippenverkleinerung absolut unvollständig beschrieben, wie man auf der Webseite https://t1p.de/b9mq nachlesen kann.
In seinem Leserbrief https://t1p.de/x1tg heißt es über das Tragen von Masken:
- „Erstens ist sie eine Atembremse (besonders bei Asthma und COPD).Zweitens verändert sie die Einatmungsluft. Die erhöhten Kohlendioxidwerte führen zur Erhöhung der Atemfrequenz und damit zur Erhöhung der Herzschlagfrequenz und zur Herzschädigung. Drittens führt die Bildung einer feuchten Kammer unter der Maske zu stark vermehrten Hautentzündungen im Munddreieck. Viertens kommt es zu einer Veränderung der Sprache akustisch und durch Aufhebung der sprachlichen Mundinformationen.Fünftens verändert sich das Sehvermögen durch Verrutschen der Maske und Beschlagen der Brille. Sechstens verhindert sie interpersonelle Kommunikation durch Aufhebung der Gesichtssprache von Mund und Nase. Zustimmung, Abneigung, Ekel, erotische Aussagen sind unter anderem betroffen. Siebtens führt die Maskenpflicht zur Zerstörung der sozialen Systeme durch Misstrauensförderung. Achtens kommt es zu Aufmerksamkeitsstörungen durch ständig verrutschte Masken, neuntens zu Geruchs- und Geschmacksstörungen“.
Bitte sagen Sie jetzt nicht, dass Sie bislang fälschlicherweise geglaubt haben, Geruchs- und Geschmackstörungen seien charakteristische Symptome einer Covid-19-Erkrankung und noch nicht wussten, dass sie durch das Tragen von Gesichtsmasken verursacht werden
Zum Abschluss ein persönliches Erlebnis:
Ich besuche als Patient eine Hautarzt-Praxis: Der zentral im Raum untergebrachte Tresen ist von sechs (besetzten) Besucherstühlen umgeben. Ich werde laut gefragt, aus welchem Grunde ich komme. Ich schaue die junge MFA überrascht an und sage: „Ich kann Ihnen nochmals meinen Namen sagen, aber den Grund meines Kommens erzähle ich nur Ihrer Ärztin. Ein Anliegen habe ich aber noch: Meine Frau hat mich beauftragt, zu fragen, wann ihr nächster Termin ist – sie hat sich das leider nicht notiert“. Antwort: „Das kann ich Ihnen nicht sagen: Datenschutz“. Den Rest des dann doch etwas lautstärker werdenden Gespräches erspare ich Ihnen. Meine Frau schickte mir dann eine Messenger-Nachricht … Bitte erteilen Sie meinem Mann Auskunft über meinen nächsten Termin. Leider hatte ich keine Gelegenheit, diese elektronische Mitteilung von einem Notar beglaubigen zu lassen“.
Bis zum Ende der Benefit-Sommerpause Ihnen allen noch angenehme Tage und
herzliche Grüße
Michael M. Kochen
Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP
Emeritus, Universitätsmedizin Göttingen
Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
AG Infektiologie und Leitliniengruppe Neues Coronavirus, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
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