In seinem Oktober-Newsletter informiert der Mediziner Michael M. Kochen über den Einfluss von Musik auf neurobiologische Vorgänge und über einen Kunststoff-Strohhalm, der zur Behandlung von Schluckauf eingesetzt wird.
Der deutsche Mediziner Prof. Dr. med. Michael M. Kochen präsentiert in seinem Newsletter MMK-Benefits regelmäßig hausärztlich relevante Studienergebnisse. Prof. Kochen. hat sein Newsletter dem Institut für Allgemeinmedizin und Sonderausbildung zu Verfügung gestellt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
heute steht, wie beim letzten Mal angekündigt, Corona nicht im Mittelpunkt dieses Benefits. Es soll gerüchteweise auch noch andere interessante Themen geben, von denen ich Ihnen einige in (sehr) kurzer Form näherbringen will.
Schluckauf
Wahrscheinlich hat jede/r von Ihnen schon mal versucht, durch Schluckauf geplagte Patienten wirksam zu behandeln. Der Singultus wird üblicherweise nach der Zeitdauer der Beschwerden eingestuft: Akut (<48 Stunden), persistierend (> 2 Tage) oder therapieresistent (>1 Monat). Im Folgenden soll es aber nur um die Therapie gehen.
- In einem weitverbreiteten Lehrbuch steht, der beste Weg, Schluckauf zu behandeln, sei die Behandlung der zu Grunde liegenden Erkrankung, wie z.B. Antibiotika bei Lungenentzündung und Protonenpumpenhemmer bei gastroösophagealer Refluxkrankheit. Wie einleuchtend, wenn hinter den Beschwerden tatsächlich eine Krankheit stecken sollte, was nur selten der Fall ist.
- Medikamentös ist z.B. Baclofen versucht worden. In einem RCT vor 23 Jahren mit der eindrucksvollen Zahl von 4 Teilnehmern wurde ein statistisch signifikantes Ergebnis erzielt. Die Autoren schlussfolgerten: „We conclude that this medication may be useful for the treatment of intractable hiccup“. Mutig, mutig.
- Ein weiterer Versuch wurde mit Metoclopramid (3x10mg) unternommen; die Teilnehmerzahl an diesem RCT war immerhin neunmal höher: n=36! Das Ergebnis: Ebenfalls statistisch signifikant. Schlussfolgerung: „Metoclopramide appears to be a promising candidate for the treatment of patients with intractable hiccups“. Sehr vielversprechend.
- In einer Übersichtsarbeit aus dem Jahre 2015 https://t1p.de/47u6 wurden 15 Studien eingeschlossen, in denen über ganze 341 Patienten mit persistierendem oder therapieresistentem Schluckauf berichtet wurde. Die Autoren meinten überraschenderweise, die Daten seien zu schlecht, um daraus Therapieempfehlungen abzuleiten.
Bei diesen wahrhaft überzeugenden Resultaten ist es kaum verwunderlich, dass alternative Therapieversuche unternommen wurden: Luftanhalten, Tütenatmung, schnelles Trinken von kaltem Wasser, ein mit Zitronensaft getränktes Stück Zucker lutschen, Schlucken von zerstoßenem Eis, vorsichtiges Ziehen an der Zunge (wie schön!), Finger in den Rachen stecken oder vorsichtiges Reiben der Augäpfel stellen nur eine begrenze Auswahl dar.
Alle diese Maßnahmen haben eines gemeinsam: Sie stimulieren zwar mehr oder weniger den Vagus, ihre Wirksamkeit ist aber ansonsten entweder gar nicht untersucht oder wissenschaftlich nicht belegt.
- Autoren aus Texas, Shiraz/Iran, Argentinien und Zürich haben jetzt in JAMA Open eine Methode namens FISST (forced inspiratory suction and swallow tool) vorgeschlagen. Sie besteht aus einer Art dickem Kunststoff-Strohhalm, der am unteren Ende ein Druckventil aufweist, am anderen Ende ein Mundstück, wie es von Aerosolen bekannt ist.
- Dieses Gerät muss man in ein halb gefülltes Glas Wasser eintauchen, mit Macht daran saugen und das dann mühsam hochkommende Wasser schlucken. Pathophysiologisch handelt es sich hier um eine Kombination aus dem entstehenden negativen thorakalen Druck und dem (Flüssigkeits)Schluckakt.
- Von 674 Schluckauf-geplagten Freiwilligen (Symptome mind. 1x/Monat), die den Halm ausprobieren wollten, nahmen 290 Personen (42%) an einer Studie teil und bewerteten (primärer Endpunkt) auf einer 5-stufigen Likert-Skala die subjektive Wirksamkeit im Vergleich zu den häuslichen Maßnahmen.
- Fast 92% beurteilten die Behandlungsmodalität als gut wirksam und – statistisch hochsignifikant – effektiver als „Hausmittel“ (Kinder ebenso wie Erwachsene, Frauen wie Männer).
Ihre potentielle Frage, wozu diese Publikation gut sein sollte, kann ich gerne versuchen zu beantworten: Der Patentanmelder dürfte unter Berufung auf die Veröffentlichung in einem renommierten amerikanischen Journal seinen revolutionären Strohhalm vermarkten und auf reichlich sprudelnde Einnahmen hoffen.
Ich spekuliere einmal: Herstellungskosten 98 US-Cent; Verkaufspreis 9,98 USD. Von diesen 10% ☺ kann man sicherlich nicht reich werden…
Bakterielle Infektionskrankheiten
Bei vielen bakteriellen Infektionskrankheiten hat sich in den letzten Jahren herausgestellt, dass eine kürzere Behandlungszeit ebenso effektiv ist wie eine längere (Beispiele: Pneumonie, Osteomyelitis, Erysipel).
Das gilt offenbar auch für Harnwegsinfekte bei Männern, wie ein RCT mit 272 teilnehmenden Patienten zeigte.
- Die behandelnden Ärzte wählten in 57% Ciprofloxacin und in 43% Cotrimoxazol aus.
- In der Sieben-Tage-Gruppe waren am Ende der Behandlung 93%, in der 14-Tage-Gruppe 90,2% beschwerdefrei.
- Unerwünschte Wirkungen traten auf bei 20.6% (7 Tage) bzw. 24.3% (14 Tage).
Drekonja DM, Trautner B, Amundson C, Kuskowski M, Johnson JR. Effect of 7 vs 14 days of antibiotic therapy on resolution of symptoms among afebrile men with urinary tract infection – a randomized clinical trial. JAMA 2021;326: 324-331
An dieser Stelle nochmals der Hinweis, dass Links zu zitierten Publikationen nur dann angegeben werden können, wenn die jeweiligen Arbeiten frei verfügbar sind (open access).
Kniegelenksarthrose
Immer mehr Personen, die unter einer Kniegelenksarthrose leiden, unterziehen sich einer Gelenkimplantation. Die Hoffnung, dass diese Implantate „jahrzehntelang“ halten, trügt nicht ganz selten. Wenn dann eine Revision ansteht, stellt sich die Frage, wie lange denn nun solche Zweitimplantationen reibungslos funktionieren.
- Britische Autoren haben das nationale „Gelenkregister“ des UK ausgewertet und das Schicksal von nicht weniger als 33.292 Revisionsimplantaten über die Dauer von 15 Jahren analysiert. Die Ergebnisse wurden im Lancet Rheumatology publiziert https://t1p.de/6fyq.
- Aus meiner Sicht klingen die Zahlen nicht gerade ermutigend: Nach zehn Jahren stand bei Männern in 20% und bei Frauen in 14.8% die nächste (zweite) Revision an – je jünger die Patienten (< 55 Jahre), desto schlechter die Prognose. Je kürzer die Haltedauer nach dieser Zweit-OP, desto schlechter der weiter Verlauf im Hinblick auf die dritte Revision.
Trigeminusneuralgie
Die Trigeminusneuralgie (TGN) ist klinisch charakterisiert durch 1-2 Sekunden anhaltende, unilateral einschießende Schmerzen im Ausbreitungsgebiet des Nervs. Sie geht für die Betroffenen mit einer schweren Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität einher (Sprechen, Essen, Trinken sind massiv behindert). Im Gefolge ist die Suizidrate deutlich erhöht. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
Die Lebenszeitprävalenz der TGN wird auf 0.16 – 0.30% geschätzt, die jährliche Inzidenz zwischen 4 – 29 pro 100.000 Personenjahre (steigt mit dem Alter).
In der Zeitschrift Practical Neurology (BMJ group) ist vor kurzem eine sehr lesenswerte, frei verfügbare Übersichtsarbeit von Autoren aus der Neurologie des University College London erschienen, die ich Interessierten sehr empfehle https://t1p.de/n1v7.
Mozart K448 effect
Gerade wurden die Nobelpreise an Wissenschaftler verliehen, deren Entdeckungen teilweise Jahrzehnte zurückliegen. Eine gute Gelegenheit, um Ihnen eine interessante Geschichte zu schildern: Es geht um den Einfluss von Musik auf neurobiologische Vorgänge.
Vor fast 30 Jahren publizierte ein Neurobiologe an der University of California in Irvine in der Zeitschrift Nature https://t1p.de/18uf ein Experiment, in dem er 36 College-Studierenden Übungen zur räumlichen Koordinationsleistung aufgab.
10 Minuten vor jeder Übung mussten drei verschiedene Hör-Tätigkeiten vollbracht werden, deren Einfluss auf die (mit verschiedenen Testverfahren gemessene) Koordinationsleistung verglichen wurde.
- Tätigkeit 1: Anhören der Sonate D-Dur für 2 Klaviere (K488) von Wolfgang Amadeus Mozart
- Tätigkeit 2: Anhören eines Tonbandes (1993!) mit einem Entspannungstext zur Senkung des Blutdrucks
- Tätigkeit 3: Zehn Minuten Stille
- Der Vergleich zeigte eine statistisch hochsignifikante Überlegenheit der Klaviersonate. NB: Wer sich die Sonate anhören möchte, kann das z.B. mit einer Aufnahme aus der Berliner Philharmonie tun (Martha Argerich und Daniel Barenboim, 2014 https://t1p.de/gtbb).
Sechs Jahre nach der ursprünglichen Veröffentlichung meldete sich eine Gruppe von amerikanischen und kanadischen Psychologen (ebenfalls in Nature https://t1p.de/68jm1), die das Experiment nicht reproduzieren konnten.
Die Geschichte ging aber weiter: Am 16. September 2021 publizierten Autoren der University of Dartmouth in New Hampshire (Neurologen, Computerwissenschaftler, Musiker, Ingenieure) in Scientific Reports [Nature Gruppe] https://t1p.de/iwtt eine Arbeit, in der sie den Einfluss der Mozart-Sonate und anderer Musikstücke auf bestimmte Hirnaktivitäten von Patienten mit therapierefraktärer Epilepsie untersuchten.
Die Ergebnisse dürften Sie nach dem Vorspann schon ahnen: Nur das Mozartstück war wirksam, aber erst dann, wenn es mindestens 30, besser 90 Sekunden und länger gespielt wurde.
Die Wissenschaftler verpassten den gesehenen Wirkungen auch gleich einen passenden Namen: “Mozart K448 effect”. Ob diese Arbeit (und etliche Vorgänger-Veröffentlichungen zum selben Thema) preiswürdig ist, dürfen Sie jetzt gerne allein entscheiden…
Wandern im Alter
Wandern ist (wie auch andere körperliche Bewegungsarten) gesund. Im Alter aber lassen bekanntlicherweise die Kräfte nach – da kann eine Höhendifferenz von 600-700 Metern schon ein unüberwindliches Hindernis darstellen.
Ideen, wie man diesem „Gebrechen“ abhelfen kann, sind keineswegs neu. 1934/35 wurde der weltweit erste Skilift im schweizerischen Davos in Betrieb genommen – neun Jahre später in Zermatt der erste Gehlift eröffnet.
Wer sich nicht vorstellen kann, was das sein soll, kann gerne einen Blick auf die folgende Fotografie aus der Schweizer Ärztezeitung werfen: https://t1p.de/xjvd(Autorin ist die Züricher Medizinhistorikerin Prof. Iris Ritzmann).
Ganz zum Schluss noch ein Hinweis: Aktuelle Studien zum Thema Corona erwähne ich immer wieder einmal (in aller möglichen Kürze von 140 Silben plus angehängte Fotos/Videos/Zitate) auf Twitter. Wer daran interessiert ist: https://twitter.com/kochen_michael
Herzliche Grüße
Michael M. Kochen
Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP
Emeritus, Universitätsmedizin Göttingen
Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
AG Infektiologie und Leitliniengruppe Neues Coronavirus, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
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