,COP-S’ steht für Corona und Psyche in Südtirol: An der Online-Umfrage des Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health konnten im März 2022 alle Südtiroler Familien mit mindestens einem schulpflichtigen Kind, das das laufende Unterrichtsjahr besucht, teilnehmen. Studienleiterin Dr. Verena Barbieri analysiert im Interview mit Patrick Rina die wichtigsten Daten der Erhebung.
Patrick Rina: Frau Dr. Barbieri, welche quantitativen und qualitativen Unterschiede gibt es zwischen der ersten COP-S-Studie und der Folgestudie?
Verena Barbieri: An der ersten Studie im Mai/Juni 2021 haben 6.958 Eltern teilgenommen, an der zweiten Studie 9.171. Die Teilnehmerzahlen verteilen sich – wie in der ersten Studie – anteilsmäßig ausgeglichen über alle Schulstufen, nur die Teilnahme von Eltern von Schüler:innen der ersten Klasse Grundschule ist etwas schwächer (-10% im Vergleich zu den anderen Klassen), da die Eltern sich teilweise nicht angesprochen fühlten, so die Rückmeldungen (sie waren im Schuljahr der ersten Umfrage nicht am Schulleben beteiligt). Schüler und Schülerinnen sind in der Umfrage gleichermaßen vertreten, es haben vermehrt Eltern mit höherem Bildungsniveau teilgenommen. Das elterliche Bildungsniveau hat sich aber insgesamt für psychische Probleme nicht als wichtiger Einflussfaktor erwiesen. Die Teilnahme von Seiten der italienischen Schule war etwas niedriger (es sind 25% der Südtiroler Schüler:innen an einer italienischen Schule eingeschrieben, es haben jedoch nur 16% der Teilnehmer angegeben, dass ihr Kind eine italienische Schule besucht). Im Vergleich zur letzten Umfrage ist die Teilnahmequote aus der italienischen Schule jedoch deutlich angestiegen.
Gibt es Unterschiede zwischen den Kindern und Jugendlichen an Schulen mit deutscher Unterrichtssprache und jenen an italienisch- und ladinischsprachigen Schulen?
Die Schüler:innen der italienischsprachigen Schulen waren im Vergleich zu jenen der deutschen und ladinischen Schulen deutlich öfters im Fernunterricht. Die Eltern der Schüler:innen der italienischen Schule wissen eine genau definierte Ansprechperson innerhalb der Schule bei psychischen Problemen, jene der deutschen und ladinischen nur zum Teil. Diese beiden Punkte erklären sich jedoch durch die unterschiedliche Organisation der Schulämter. Italienische Schulfamilien geben deutlich häufiger an, dass sich die Familienstimmung seit Beginn der Corona-Pandemie verschlechtert hat. Dafür geben Familien mit Kindern an der deutschen Schule deutlich häufiger den Verlust von Sozialkontakten an und, damit einhergehend, den höchsten Konsum von digitalen Medien im privaten Bereich. Der allgemeine Gesundheitszustand und die gesundheitsbezogene Lebensqualität werden von Familien der ladinischen Schule weitaus am besten bewertet.
Kann grundsätzlich gesagt werden, dass die Verlängerung der Covid-Ausnahmesituation zu einer Zunahme der psychosozialen Belastungen bei Eltern, Kindern und Jugendlichen geführt hat? Wie stark hat die Familienstimmung darunter gelitten?
Ja, das kann grundsätzlich gesagt werden. Rund ein Drittel der Familien gibt an, dass sich die Familienstimmung seit Beginn der Pandemie verschlechtert hat. Eine Aufschlüsselung der Angaben zeigt klar, dass vor allem Familien, in denen die Eltern durch die Pandemie stark beruflich belastet waren oder alleinerziehend waren, besonders starken Belastungen ausgesetzt waren. Bei Kindern und Jugendlichen, deren Eltern pandemiebedingt stark beruflich belastet waren, traten verstärkt Verhaltensprobleme auf – Hyperaktivität hingegen nicht.
Welche Familien waren stärker von den psychosozialen Auswirkungen der Pandemie und Anti-Corona-Maßnahmen betroffen?
Familien von Kindern in der ladinischen Schule waren davon am wenigsten betroffen. Der Bildungsstand der Eltern zeigte keinen Einfluss. Kinder von Alleinerziehenden waren in allen Bereichen sehr stark betroffen, Kinder mit Migrationshintergrund der Eltern vor allem von Verhaltensstörungen. Besonders gelitten haben Kinder, die nicht in Italien geboren worden sind. Sie zeigen vor allem Auffälligkeiten bei Angstzuständen und Hinweise für depressives Verhalten. Allerdings muss man hier berücksichtigen, dass sie in der zweiten Umfrage eine sehr kleine Gruppe darstellen und die Angaben daher nur bedingt als repräsentativ betrachtet werden können. Vor allem zeigt sich, dass Kinder von Eltern mit Migrationshintergrund in diesen beiden Bereichen nicht auffallen.
Welche Probleme haben im Vergleich zur Studie 2021 zugenommen?
Zugenommen haben psychosomatische Beschwerden. Mehr oder weniger gleich geblieben sind Verhaltensstörungen mit Gleichaltrigen und Angstzustände. Verbessert haben sich die Lebensqualität, die Hyperaktivität, emotionale Probleme und allgemeine Verhaltensstörungen. Emotionale Probleme, Angststörungen und Hinweise für depressives Verhalten gab es vor allem bei Mädchen, Verhaltensstörungen und Hyperaktivität vor allem bei Jungen.Schüler:innen der ladinischen Schule schneiden in allen Bereichen wesentlich besser ab als jene der deutschen und italienischen Schule. Zwischen Letzteren gibt es kaum Unterschiede. Lediglich Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen zeigen sich öfters bei Schüler:innen der italienischen Schule. Verhaltensprobleme jeglicher Art nehmen mit zunehmendem Alter der Schüler:innen ab, während Angstzustände, emotionale Probleme und Hinweise für depressives Verhalten zunehmen bzw. gleich bleiben. Ebenso nehmen psychosomatische Beschwerden mit zunehmendem Alter zu.
Wie hat sich bei Kindern und Jugendlichen die Nutzung von digitalen Medien im Vergleich zu 2021 verändert?
Computer, Smartphones, Tablets oder Spielkonsolen wurden im Vergleich zu 2021 für schulische Zwecke wieder viel weniger genutzt, der Konsum für private Zwecke ist jedoch ähnlich hoch geblieben.
Geht aus der Folgestudie hervor, dass sich viele Schüler:innen kaum mehr ins „reale“ soziale Leben zurücktrauen?
Ja, dies geht klar aus der Studie hervor. Es gibt weniger Sozialkontakte, dafür vermehrten Konsum der digitalen Medien für private Zwecke. Die Eltern helfen ihren Kindern eindeutig mehr bei schulischen Angelegenheiten als sogar noch 2021. Die Schüler:innen geben die Familie noch mehr als ersten Bezugspunkt in ihrem Leben an als 2021. Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen sind nicht besser geworden, ebenso die Angstzustände. In den offenen Antworten der Umfrage beklagen Eltern vor allem, dass sich Schulisches und Soziales sehr stark in die Familien verlagert haben und hier von Seiten der Politik und der Schule dringender Bedarf besteht, die Schüler:innen wieder in ein selbstständiges „normales“ Leben zurückzuholen.
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie als Wissenschaftlerin aus der Folgestudie? Haben Sie mit diesen Ergebnissen gerechnet?
Die Ergebnisse haben wir uns zum Teil erwartet. Es war wenig überraschend, dass die Lebensqualität zwar wieder besser geworden ist, psychische Probleme jedoch zum Großteil bestehen geblieben sind. Überraschend war vor allem, dass die Kinder und Jugendlichen wenig ins normale Alltagsleben in Schule und Freizeit zurückgefunden haben, jedoch viel mehr zuhause bleiben und sich an den Eltern und an digitalen Medien orientieren.
Wie sollten die politischen Entscheidungsträger – ausgehend von den Studienergebnissen – künftig handeln?
Es besteht dringender Handlungsbedarf: Südtirols Familien müssen entlastet werden. Bildung darf nicht zur alleinigen Aufgabe der Eltern werden, ebenso sind die finanziellen, persönlichen und beruflichen Belastungen der Familien durch die Pandemie deutlich zu Tage getreten. Experten für psychische Probleme sollten den Eltern unkompliziert und zeitnah für ihre Kinder zur Verfügung gestellt werden und in den Schulen sollte die Verantwortung für die Bildung klar übernommen werden. Betreuungsangebote, finanzielle Entlastung und berufliche Entlastung der Eltern sind wichtige Themen, die jetzt durch die Pandemie doppelt wichtig geworden sind, um den Familien ein geregeltes und normales Leben zu ermöglichen, damit sie nicht unter der Alltagslast zusammenbrechen.
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