Der Herbst steht vor der Tür, eine Coronawelle noch vor Weihnachten wird von Wissenschaftler:innen nicht ausgeschlossen. Prof. Dr. Christian Wiedermann, Koordinator der Forschungsprojekte am Institut für Allgemeinmedizin und Public Health Bozen, empfiehlt daher, die neuen Impfangebote anzunehmen.
Patrick Rina: Erstimpfung, Zweitimpfung, Booster, 4. Stich: Viele Bürgerinnen und Bürger verlieren langsam den Überblick. Herr Prof. Wiedermann, können Sie diesen unübersichtlichen Wald lichten?
Prof. Dr. Christian Wiedermann: Das Informationsinteresse der Menschen ist nicht mehr auf die Corona-Pandemie, sondern auf den Ukraine Krieg, das Energie-Problem und den Klimawandel gerichtet. Mit dem Rückgang der schweren COVID-19-Erkrankungen und -todesfälle und der Lockerung von Schutzmaßnahmen ist es, als ob die Pandemie beendet wäre, obwohl gerade erst die Sommerwelle mit vielen symptomatischen Infektionserkrankungen abgelaufen ist. Das Schutzverhalten war schon vor der Sommerwelle niedrig und hat mit dem Anstieg der Fallzahlen kaum zugenommen. Jüngsten Umfragen zufolge sind Personen, die bewusst auf Infektionsschutz verzichtet haben („No-Vax“), auch weiterhin nicht an einer Impfung interessiert. Wichtiger aber ist, dass die geltenden Impfempfehlungen auch bei den relevanten Zielgruppen nicht mehr ausreichend bekannt sind. Die Impfung ist grundsätzlich für alle ab fünf Jahren empfohlen. In Deutschland wusste das beispielsweise nur ein Drittel der Befragten und ein weiteres Drittel war der Meinung, dass erst ab dem 12. Lebensjahr geimpft werden sollte. Nur 38% der Eltern von Kindern unter 18 wissen, dass es eine Impfempfehlung ab 5 Jahren gibt, in der relevanten Zielgruppe der Eltern von Kindern zwischen 5 und 11 Jahren wissen dies nur 11%. Es ist unwahrscheinlich, dass in Südtirol die heute geltenden Empfehlungen für die Coronaimpfung besser bekannt sind.
Um eine wirksame Immunisierung durch Impfung aufzubauen, ist nach Abschluss des ersten Impfzyklus (zwei Dosen für Comirnaty, Spikevax, Vaxzevria und eine Dosis für Jcovden, ehemals COVID-19 Vaccine Janssen) für alle Menschen ab dem zwölften Lebensjahr eine erste Auffrischungsdosis erforderlich. Diese Impfempfehlung ist von einer eventuellen sog. Hybrid-Immunisierung, d.h. parallel durchgemachter Infektion, unabhängig. Frühestens drei Monate (90 Tage) nach einer bereits erhaltenen ersten Auffrischungsdosis ist wegen der besonderen Eigenschaften der Omikron-Variante und des teilweisen Verlusts aufgebauten Immunschutzes allen und bestimmten Personengruppen dringend empfohlen, eine zweite Auffrischungsdosis zu erhalten, der sog. vierte Stich.
Tatsächlich sind wir vom wünschenswerten und möglichen Impfschutz weit entfernt. Personen mit hybrider Immunität nach Impfung plus Genesung sind weniger bereit, sich die Impfung auffrischen zu lassen. Auch wenn man Genesung zusätzlich zur Impfung berücksichtigt, dürften mehr als die Hälfte der über 60-jährigen nicht auf vier Immunisierungen kommen, obwohl für diese Altersgruppe bereits zwei Auffrischungen empfohlen sind. Nicht viel besser dürfte es bei den unter 60-jährigen mit der ersten Auffrischung aussehen. Der Verzicht auf Auffrischungsimpfungen dürfte in dieser Gruppe noch in viel stärkerem Maße von durchgemachter Infektion bestimmt sein, da von den vielen Omikron-Infektionen hauptsächlich diese Gruppe betroffen war. In der vor uns liegenden Impfkampagne für die angepassten Impfstoffen sollte die Kommunikation entsprechend auf die Klärung ausgerichtet sein, wie bei hybrid Immunisierung die Genesungen zu zählen sind, weil genau sie sich bremsend auf die Impfbereitschaft auswirken.
Was sind bivalente Impfstoffe?
Wiedermann: Ein „bivalenter“ Impfstoff löst eine Immunreaktion gegen zwei verschiedene Antigene aus. Dabei kann es sich um zwei verschiedene Viren oder um zwei Varianten eines Virus handeln. Die aktuellen COVID-19-Impfstoffe und -Auffrischungen richten sich gegen den Ende 2019 entdeckten ursprünglichen COVID-19-Virustyp. Sie gelten als „monovalente“ Impfstoffe. Die beiden Hersteller der mRNA-Impfstoffe, Moderna und Pfizer, entwickelten bivalente Impfstoffe, die sowohl gegen den ursprünglichen COVID-19-Virustyp als auch gegen die Omikron-Variante wirken. Sie zielen jetzt auch auf das Spike-Protein ab, das mit der Untervariante BA.1 von Omikron assoziiert ist.
Wer sollte sich ab September 2022 impfen lassen?
Wiedermann: Der Technisch-Wissenschaftliche Ausschuss für Italien wies in seiner jüngsten Empfehlung vom 5. September 2022 erneut darauf hin, dass Menschen mit eingeschränktem Immunschutz und alle Über-60-Jährigen Personen das höchste Risiko haben, ein schwere Krankheit zu entwickeln, und dass daher für sie die Auffrischungsdosis dringend empfohlen wird. Und der Ausschuss schreibt weiter: „Alle anderen Personen können auf ärztlichen Rat oder auf eigene Entscheidung hin mit der Auffrischungsdosis geimpft werden.“ Mit dieser Empfehlung wird erstmals auch in Italien ein Rahmen für individuelle Entscheidungen geschaffen – ein Rahmen, auf dessen Vorteile sich auch das Nationale Impfgremium in Österreich jüngst berufen hat, als Experten vereinzelt die dortige Ausweitung der zweiten Auffrischungsdosis auf alle Altersgruppen ab dem 12. Lebensjahr kritisierten.
Ein Merkmal kennzeichnet die Anpassungen der Impfempfehlungen: die Zeitspanne zum letzten Ereignis (Impfung oder Infektion), in der eine Auffrischungsdosis ratsam ist, wird kürzer. Sie liegt jetzt auch in Italien bei drei Monaten für die Impfung als immunisierendes Ereignis und bei vier Monaten nach symptomatischer Infektion. Besonders nach Infektion waren die Empfehlungen international sehr unterschiedlich, was zu Unklarheiten beigetragen haben dürfte.
Was empfehlen Sie einem Unter-50-Jährigen mit zwei Impfungen und einer durchgemachten Corona-Infektion?
Wiedermann: In einem solchen Fall empfiehlt sich jetzt die erste Auffrischungsdosis, sobald die Infektion (Datum des positiven Tests) 120 Tage zurückliegt. In Südtirol wird dafür ab September der erste bivalente Impfstoff verwendet, der als angepasstes zweites Virusteil auch gegen das Spikeprotein von Omikron-BA.1 immunisiert. Von den Behörden wird erhofft, dass die Verfügbarkeit eines angepassten Impfstoffs die Impfbereitschaft bessert.
Vor welchen Corona-Varianten schützen die neuen Vakzine, die in Italien ab September 2022 verimpft werden?
Wiedermann: Die neuen „bivalenten” Impfstoffe sind auf die Omikron-BA.1-Variante und das in Wuhan/China identifizierte ursprüngliche Coronavirus gerichtet. Sowohl der bisherige, als auch der neue Impfstoff-Typ ließen bei Auffrischungsimpfungen die Antikörperspiegel in die Höhe schnellen. Die neuen aktualisierten Versionen taten dies in einem Maße, das im Durchschnitt 1,5-mal höher war als das des bisherigen Impfstoffes. Ein höherer Gehalt an neutralisierenden Antikörpern bedeutet einen besseren Schutz gegen COVID-19, obwohl es nicht mehr die Omikron-BA.1-Variante ist, die zirkulierts. Die Wissenschaft nimmt an, wenn die Hälfte der Menschen bereits durch eine frühere Impfung oder Infektion gegen eine symptomatische Coronavirus-Infektion geschützt ist, dass der jetzt verfügbare bivalente Auffrischungsimpfung den Schutz auf 90 % erhöht, während eine zusätzliche Dosis des ursprünglichen Impfstoffs immerhin eine Anhebung des Schutzes auf 86 % bietet. Eine Verbesserung um 4 %. Beim Schutz vor schweren Erkrankungen ist der Unterschied kleiner und liegt bei weniger als 1 %.
Auch wenn der Vorteil für die Einzelperson gering erscheint, so ist die Anpassung des Impfstoffes auf Bevölkerungsebene dennoch wichtig, weil eine relevante Einsparung an Krankenhausbettenbelag resultiert. Die relativen Vorteile der variantenbasierten Auffrischungsimpfungen könnten sich verstärken, wenn die bereits bestehende Immunität durch das Auftreten einer neuen Variante plötzlich verringert wird, wie bereits beim Wechsel von Delta auf Omikron einmal geschehen. In diesem Fall könnte ein Impfstoff auf Omikron-Basis einen viel besseren Schutz bieten als die älteren Impfstoffe der Vorfahren.
Angesichts der Verbesserung des Immunschutzes durch die Auffrischungsdosis ist es wegen der unklaren Pandemie-Entwicklung – Thema „Herbstwelle“ – wichtiger, jetzt die Impflücke durch Auffrischung mit dem verfügbaren bivalenten Impfstoff zu verkleinern, als sich noch länger mit der Frage zu beschäftigen, auf den nächsten bivalenten zu warten, der anstelle von BA.1 gegen BA.5 gerichtet ist, weil nicht klar ist, ob überhaupt und, wenn ja, wie lange dieser einen besseren Schutz bieten wird. Neue Omikron-Varianten vom BA.2-Typ stehen zudem vor der Tür.
Der an der Berliner „Charité“ tätige Virologe Christian Drosten rechnet mit einer starken COVID-19-Welle in Deutschland noch vor Dezember und erteilt einer voreiligen Corona-Entwarnung eine Abfuhr. Teilen Sie Drostens Einschätzungen? Droht auch Südtirol eine heftige Herbst-Welle?
Wiedermann: Die meisten Epidemiologen rechnen für den Herbst und kommenden Winter mit einer weiteren Corona-Welle in Europa. Drosten weist darauf hin, dass die neue Virusvarianten immer noch für viele neue Krankheitsfälle sorgen und selbst leichte Krankheitsverläufe wahrscheinlich zu erheblichen Arbeitsausfällen führen werden. Von der anhaltend steigenden Zahl an Long-COVID-Erkrankungen ganz abgesehen. Dies war der Grund, seitens des Südtiroler Instituts für Allgemeinmedizin und Public Health bereits vor der absehbaren Sommerwelle auf die Notwendigkeit der vorbereitenden Auffrischungsimpfung hinzuweisen. Wie heftig die Herbstwelle in Südtirol ausfallen wird, lässt sich derzeit noch nicht realistisch abschätzen. Insgesamt teile ich Drostens Einschätzungen. Es ist zu hoffen, dass sich auch Italien (und damit auch Südtirol) für eine neue Impfkampagne entscheidet, die sich nicht einzig auf die Auffrischung der Impfung, sondern auch der Information konzentriert. Wir dürfen die Corona-Risiken nicht ausblenden und müssen „den Wald lichten“. Denn Informationsmangel ist nach wie vor der wichtigste Faktor für Zögerlichkeit im Impfverhalten. Ohne Verbesserung der Information und ohne Erhöhung des Corona-Risikobewusstseins seitens der Bürgerinnen und Bürger wird uns die Pandemie in Form weiterer Wellen noch länger erhalten bleiben.
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