In seinem November-Newsletter informiert der Mediziner Michael M. Kochen ausschließlich über Covid-19.
Der deutsche Mediziner Prof. Dr. med. Michael M. Kochen präsentiert in seinem Newsletter MMK-Benefits regelmäßig hausärztlich relevante Studienergebnisse. Prof. Kochen. hat sein Newsletter dem Institut für Allgemeinmedizin und Sonderausbildung zu Verfügung gestellt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, angesichts der besorgniserregenden Entwicklungen des Infektionsgeschehens geht es heute nur um Corona. Für die Bedrohlichkeit gibt es – abgesehen von der vierten Welle, vor allem in europäischen Ländern – viele Parameter, die ich nicht alle aufzählen will.
- Man könnte z.B. auf die Zahl der verfügbaren Intensivbetten schauen, die heute im Vergleich zum Jahresanfang um n=4.000 geringer ist – sie mussten abgebaut werden, weil das Personal dafür fehlt.
- Oder sehen Sie sich einmal die Zahl der weltweit an Corona Verstorbenen an. Sie beträgt zwar offiziell knapp über 5 Millionen, aber es gibt wissenschaftlich gute Gründe, die reale Zahl bei rund 17 Millionen anzusetzen. Lesen Sie dazu eine Analyse der renommierten britischen Zeitschrift „The Economist“ unter https://t1p.de/yqpg.
Nicht nur in den täglichen Nachrichtenmeldungen, auch in den vielen Mitteilungen, die mich erreichen, wird nach dem Schutzeffekt einer vollständigen Grundimmunisierung und dem Nutzen von Booster-Impfungen gefragt.
Das Robert-Koch-Institut (RKI), das übrigens frühzeitig vor der Entwicklung in den kälteren Monaten gewarnt hat, schätzt die aktuelle Gefahrenlage für Ungeimpfte als sehr hoch und für Geimpfte als moderat, aber ansteigend ein.
Es ist allerdings keine wirklich neue Erkenntnis, dass die Wirkung einer zweifachen Impfung, besonders bei alten Menschen nach Ablauf von 4-6 Monaten, oft auch schon früher, nachlässt. Dazu gibt es zahlreiche Studien, eine der besten kommt (wie häufig in dieser Pandemie) aus Israel.
Das Land hat – zusammen mit dem UK – sehr frühzeitig mit den Impfungen der Bevölkerung begonnen und gesehen, dass die im Januar 2021 vollständig Geimpften spätestens Ende Juni ansteigende Zahlen von Infektionen und schweren Krankheitsverläufen aufwiesen, wie die nachfolgende Abbildung zeigt:
Die Effektivität der Corona-Schutzimpfung wird vom RKI weiterhin als sehr hoch bewertet.
- Der Schutz vor Hospitalisierung beträgt bei 18- bis 59-Jährigen ca. 89 % und in der Altersgruppe ab 60 ca. 85 %.
- Der Schutz vor einem sehr schweren Verlauf (definiert als Therapiebedürftigkeit auf einer Intensivstation ICU), liegt in der Gruppe der 18- bis 59-Jährigen bei 94 % und ab dem Alter von 60 Jahren bei etwa 90%.
- Der Schutz vor Tod liegt bei 18- bis 59-Jährigen bei rund 92 %, bei über 60-Jährigen bei 86 %.
Diese Zahlen bedeuten selbstredend nicht, dass von hundert geimpften Personen in der Bevölkerung z.B. 94% geschützt sind. Die Effektivitätsangaben beruhen vielmehr auf der vergleichenden Berechnung der Outcomes zwischen vollständig geimpften und ungeimpften Personen.
Wir wissen auch seit den ersten Zulassungsstudien, dass Impfungen nicht in erster Linie Infektionen, sondern schwere Verläufe verhindern sollen – und das tun sie in sehr hohem Maße.
Durchbrüche (Infektionen trotz vollständiger Impfung) und viele andere interessierenden Zahlen teilt das RKI am Donnerstag jeder Woche mit https://t1p.de/dn0c.
Wenn man sich den letzten Wochenbericht vom 4. November ansieht, steht im hinteren Teil eine detaillierte Tabelle, die ich Ihnen nachfolgend mit einigen farbigen Markierungen zeige. Dargestellt sind in den Altersgruppen 12-17, 18-59 und >60
Ø die kumulierten Zahlen (und Prozentsätze) seit der ersten Februarwoche 2021
Ø und direkt daneben die Zahlen der letzten vier Kalenderwochen (KW 40-43) – für symptomatische Infektionen, Hospitalisierungen, Intensivtherapie und Tod.
Ø Man sieht auf einen Blick den stärksten Risikofaktor für einen schweren Verlauf – das Alter: Je jünger die Betroffenen, desto niedriger sind die Absolutzahlen und Prozentsätze.
Trotz der unerfreulichen Zahlen der Durchbrüche lässt sich aus der Tabelle ablesen, dass – über die Wochen 5 – 43 gesehen –Impfungen unverändert gut schützen (bei der isolierten Betrachtung der letzten vier Wochen zeigen sich Hinweise auf das oben erwähnte Nachlassen der Schutzwirkung).
Für die indirekte Bestätigung des Impfschutzes kann man sich als Beispiel die Inzidenzahlen aus Baden-Württemberg ansehen:
Die aktuelle 7-Tage-Inzidenz in Baden-Württemberg betrug am 4.11.2021:
- im Landes-Durchschnitt: 193,1
- für vollständig Geimpfte: 50,7
- für Ungeimpfte, nicht vollständig Geimpfte und Fälle ohne Angaben zum Impfstatus: 458,2 (also 9x höher)
Die Schutzwirkung einer vollständigen Grundimmunisierung hängt auch von der benutzten Vakzine ab. Das kann man aus der RKI-Tabelle zwar nicht direkt ersehen, aber errechnen, wenn man die Zahl der verabreichten Impfungen aus einer anderen Quelle (z.B. den wöchentlich aktualisierten KBV-Daten https://t1p.de/e099 oder dem Portal „Corona in Zahlen“ https://www.corona-in-zahlen.de/) hinzufügt.
Die folgende, von mir erstellte tabellarische Berechnung zeigt, dass die mit Abstand meisten Durchbruchsinfektionen bei Personen erfolgten, die den Impfstoff von Janssen/Johnson & Johnson erhalten hatten (aufgrund des „unnötigen“ Zweittermins auch „Urlaubs-Shot“ genannt). Genau aus diesem Grunde empfiehlt auch die Ständige Impfkommission (STIKO) einen Booster bei den J&J-Geimpften bereits ab vier Wochen Abstand zur ersten/einzigen Dosis.
[Geringe Veränderungen könnten sich in der Tabelle ergeben, wenn man zusätzliche Aspekte wie z.B. den Zeitpunkt der Markteinführung einer Vakzine berücksichtigt).In der Tabelle kann man übrigens auch erkennen, dass zwei Impfungen mit AstraZeneca – wegen des fast immer eingehaltenen, zwölfwöchigen Abstands zwischen den Dosen – nach Moderna am zweitbesten abschneiden.
Spätestens seit Ende August (!) wissen wir auch, dass die Schutzwirkungeiner vollständigen Grundimmunisierung durch eine Boosterimpfung ganz erheblich verstärkt werden kann.
Das haben u.a. zwei große israelische Studien gezeigt, die ich Ihnen in aller Kürze vorstellen will.
Die erste Studie aus Israel
Die eine Studie („Protection of BNT162b2 Vaccine Booster against Covid-19 in Israel“) wurde am 15. September 2021 im New England Journal of Medicine veröffentlicht https://t1p.de/shst. Das Preprint erschien am 31.8.2021, die dort enthaltenen Informationen waren bereits im Juli bekannt.
Die Autoren haben die Daten von nicht weniger als 1.137.804 Personen > 60 Jahren ausgewertet, die fünf Monate vorherdie zweite Biontech/Pfizer- (BNT) Dosis ihrer Grundimmunisierung erhalten hatten. Eine Hälfte mit Booster (BNT) wurde mindestens 12 Tage später mit der anderen ohne Booster verglichen.
Die Personen in der Booster-Gruppe erlitten um den Faktor 19.5 seltener schwere Verläufe als diejenigen in der ungeboosterten Vergleichsgruppe.
Wie die nachfolgende Tabelle zeigt, betrug dieser Faktor bei den >80-Jährigen 15.2., bei den 70-79-Jährigen 24.9 und bei den 60-Jährigen 17.7.
Die zweite Studie aus Israel
Die zweite Studie („Effectiveness of a third dose of the BNT162b2 mRNA COVID-19 vaccine for preventing severe outcomes in Israel“) wurde am 29. Oktober im Lancet veröffentlicht https://t1p.de/o44y.
Die Autoren haben die Daten von 1.158.269 Personen ausgewertet, (Mitglieder der größten Krankenkasse des Landes, Clalit, die rund die Hälfte der Bevölkerung versorgt). 728.321 Menschen mit vollständiger Grundimmunisierung (BNT) vor mindestens fünf Monaten mit Booster wurden im Mittel 13 Tage später mit einer gleich großen Gruppe ohne Booster verglichen.
Die Wirksamkeit bei der Verhinderung eines schweren Verlaufs betrug 93% (Hospitalisierung), 92% (ICU-Versorgung) und 81% (Tod) – bei Frauen wie Männern und ohne Unterschied bei den Altersgruppen 40-69 und >70.
[NB: Einschränkend muss man zu diesen Daten sagen, dass das mittlere Alter in der Boostergruppe nur 52 Jahre betrug und Gesundheitsarbeiter/innen sowie Bewohnerinnen von Altenheimen ebenso ausgeschlossen wurden wie alte/vorerkrankte Patienten, die ihre eigene Wohnung nicht mehr verlassen konnten].Quintessenz:
- Eine vollständige Grundimmunisierung mit den in der EU verfügbaren Impfstoffen schützt in erheblichem Ausmaß vor Hospitalisierung (85-89%), ICU-Therapie (90-94%) und Tod (86-92%). Eine gewisse Ausnahme ist hier die Vakzine von Johnson & Johnson.
- Der Schutz ist – ausweislich der steigenden Zahl an Durchbruchsinfektionen – zwar nicht so vollständig, wie wir alle uns das erhofft haben. Die „Unwirksamkeit“ einer zweifachen Impfung oder eine „Pandemie der Geimpften“ ist jedoch eine Mär, die von interessierter Seite propagandistisch ausgeschlachtet wird.
- Auch vollständige Geimpfte sollten zum Schutz ihrer eigenen Person und zum Schutz anderer nicht auf AHA+L+A-Maßnahmen verzichten. Auch, wenn alle Personen vollständig geimpft oder genesen sind: Wer sich längere Zeit ohne Maske und Abstand in oft unzureichend gelüfteten Innenräumen aufhält, riskiert eine Durchbruchsinfektion. Diese kann (allerdings sehr viel seltener als bei Ungeimpften), besonders in höherem Alter auch zu schweren Verläufen führen.
- Die genannten Vorsichtsmaßnahmen gelten auch für ärztliche Fortbildungs-Präsenzveranstaltungen (mit 2-G-Regel, aber ohne Maske und Abstand). Zu diesem Aspekt habe ich ein Editorial geschrieben, das am 15.11. in der ZFA erscheint (Anhang).
- Eine Booster-Impfung mit einem der beiden m-RNA-Vakzinen BNT oder Moderna führt – 5-6 Monate nach Abschluss der Grundimmunisierung – zu einer weiteren massiven Reduktion des Risikos schwerer Verläufe.
Die STIKO empfiehlt diese Boosterung (neben medizinischem und Pflegepersonal sowie Immungeschwächten) z.Zt. nur Personen ab 70 Jahren – in Altenheimen ohne Altersbegrenzung https://t1p.de/vl78 (ab Seite 10). Eine solche Priorisierung hat den Sinn, dass zuerst die besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppen erreicht werden. Sie dürfte in absehbarer Zeit aber auf alle Altersgruppen ausgedehnt werden.
„Ihnen fehlen noch fünf Monate bis Sie 70 sind“ – mit diesen oder ähnlichen Bemerkungen werden hoffentlich keine Patient/innen unverrichteter Dinge wieder nachhause geschickt werden. Nach meiner Einschätzung werden Hausärztinnen und Hausärzte im Praxisalltag mit angemessenem Pragmatismus handeln und keiner starren Bürokratie folgen.
Bitte erlauben Sie mir noch einige Anmerkungen, die mir für die Diskussion der momentanen Lage wichtig erscheinen:
Die Belastung von Hausarztpraxen mit Boosterimpfungen:
- Während (wie der Journalist Markus Grill richtig anmerkt) im Frühsommer noch 75.000 hausärztliche und spezialistische Praxen Corona-Impfungen durchgeführt haben, sind es derzeit nur noch 30.000. Daher kann die Impfgeschwindigkeit nicht die gleiche wie vor einem halben Jahr sein. Es besteht damit die Gefahr, dass Booster-Impfungen alleine in den Praxen nicht in der notwendigen Zeitspanne verabreicht werden können („bis zum Jahresende“ ist m.E. definitiv zu spät!).
- Die organisatorische Durchführung der Impfungen wird auch noch erheblich durch die amtlich vorgegebene,zweiwöchige Vorbestellung von Impfstoffen behindert – sie wird allerdings in Kürze abgeschafft.
- Der BNT-Impfstoff ist immer noch nicht in einzelnen Fertigspritzen verfügbar. Siehe dazu https://t1p.de/j97m.
- Für den ganzen Aufwand inkl. zeitraubender Organisation, Aufklärung und Aufziehen der Vakzine erhalten die Hausärzt/innen 20 Euro – eine lachhaft niedrige Bezahlung.
- Besser als die kostenintensive Wiedereröffnung aller Impfzentren könnte folgender Vorschlag sein: Alle Gemeinden informieren ihre Einwohner über die anstehende Boosterung und organisieren diese Impfungen wie auch die Grundimmunisierung am Wochenende in bzw. vor den Rathäusern – ohne Anmeldung. Die medizinische Leitung und Durchführung dieser Maßnahme erfolgen durch die (Haus)Ärzteschaft vor Ort. Mobile Impfteams und andere pragmatische Vorgehensweisen müssen wahrscheinlich hinzukommen.
Ein Ende der Pandemie:
ist nur denkbar, wenn (analog anderer, noch ansteckenderer Infektionskrankheiten wie Masern oder Windpocken) rund 90% der Bevölkerung ab 12 Jahren vollständig geimpft und geboostert sind.
Für die Impfung von Kindern im Alter von 5-11 Jahren steht zwar eine Zulassung unmittelbar bevor; für eine informierte Entscheidung fehlen m.E. aber noch Daten, die über die begrenzten Gruppengrößen der Zulassungsstudien hinausgehen, siehe auch https://t1p.de/tj2j.
Politische Maßnahmen:
Dass einige Politiker/innen auf Landes- und Bundesebene immer noch eine groteske Uneinigkeit (um nicht von Unfähigkeit zu sprechen) pflegen und offenbar nicht in der Lage sind, frühzeitig Entwicklungen (auch in anderen Ländern) zu beherzigen, stellt eine Fortsetzung der Situation vom Winter 2020/2021 dar. „Das konnte ja keiner ahnen“ ist in diesem Zusammenhang einer der eigentümlichsten Aussprüche…
Diese Art von defizitärem politischem Management führt (zusammen mit der immer noch weitgehend fehlenden Aufklärung besonders ärmerer Personen und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte) zu einer massiven und kontraproduktiven Verunsicherung der Bevölkerung.
Die Süddeutsche Zeitung schrieb dazu in der aktuellen Wochenendausgabe einen umfangreichen Artikel mit der Überschrift: „Haben wir nichts gelernt?“ https://t1p.de/j45b. (Bezahlschranke).
Zu den politischen Versäumnissen zählen auch die Angst vor der Verordnung einer Impfpflicht für den medizinischen/pflegerischen Bereich, die z.B. vom Vorsitzenden des DHÄV, Uli Weigeldt, aber auch von 74% der Bevölkerung befürwortet wird. Die befürchtete Abwanderung von ungeimpftem Pflegepersonal hat sich z.B. in Frankreich oder Spanien nicht bewahrheitet. („Eine Impfpflicht haben sie ebenso ausgeschlossen wie erneute Einschränkungen für Geimpfte. Nun bleibt die Wahl zwischen weiter steigenden Todeszahlen und Wortbruch.“ Christian Drosten am 5.11. über Twitter).
Eine weitere kritische Unterlassung auf politischer Ebene sind m.E. die weitgehend unzureichenden Einlasskontrollen, die dazu führen, dass auch andere vernünftige Regeln immer seltener eingehalten werden.
(„Dem Klischee nach ist in Italien ja alles lockerer. Für Corona-Regeln gilt das offenbar nicht. Ich war 2 Wochen in Sizilien und in absolut jedem Restaurant wurde der Impfpass eingescannt (!). In Berlin hingegen höre ich oft: „Lassen Sie stecken, ich glaub´ Ihnen, dass Sie geimpft sind.“ Der Journalist Markus Grill auf Twitter)
NB: Ein besonders auffälliges Beispiel für eine unverständliche politische Entscheidung hat gerade das Gesundheits- und Sozialministerium von Baden-Württemberg gegeben. Es verkündete am 5. November, dass ab sofort positiv auf das Coronavirus getestete Personen (und deren enge Kontaktpersonen) nicht mehr routinemäßig von den Gesundheitsämtern kontaktiert werden – mit Ausnahme der Altenheime.
https://t1p.de/7e1d (Danke an Wolfgang v. Meißner für den Hinweis).
- Die Gesundheitsämter sind überlastet – kein Zweifel. Dennoch darf man mit Fug und Recht fragen, ob diese Maßnahme angemessen ist. Sie vermittelt der breiten Bevölkerung die falsche Botschaft, die Pandemie sei außerhalb von Alten-/Pflegeheimen eigentlich vorbei. Nur nebenbei sei bemerkt, dass in den Gemeinden viermal so viele alte Menschen leben wie in Pflegeheimen.
- Es wird in diesem Zusammenhang immer wieder darauf verwiesen, dass die Corona WarnApp auf einem Smartphone, wenn sie nur häufiger benutzt würde, die mündliche Information ersetzen könnte. Ich frage dann zurück, wie viele der 18,27 Millionen Menschen > 65 Jahren in Deutschland die Bedienung eines Smartphones angemessen beherrschen…
Arzneimittel gegen eine Covid-19-Erkrankung rücken näher
Mehr als diese reichlich unbestimmte Aussage lässt sich momentan für Medikamente, die Hochrisikopatienten in einem frühen Stadium der Covid-19-Erkrankung helfen sollen, nicht treffen. Viel klarer ist da schon das Rezept, das diverse Hersteller in ihrer Vermarkungsstrategie, bei der es um Milliarden Euros geht, zusammengebraut haben. Gemäß dem jedem Hobbykoch bekannten Spruch „man nehme…“ geht das so:
- Man entwickelt ein Arzneimittel (oft aus bereits bekannten Wirkstoffen – sog. repurposed drugs), das virustatische und/oder immunmodulatorische Effekte zeigt und beginnt eine randomisierte klinische Studie.
- Die Untersuchung wird so konzipiert, dass bei Erreichen bestimmter Endpunkte die Studie durch ein – selbstverständlich völlig unabhängiges Gremium – vorzeitig abgebrochen wird.
- Bevor man die Daten zumindest in einem für alle nachles- und kritisierbaren Preprint (noch nicht begutachtet) veröffentlicht, reicht man sie den zuständigen Zulassungsbehörden ein. Böse Zungen behaupten – natürlich wahrheitswidrig – dass in diesen Behörden einige Personen arbeiten, die an der Vermarkung nicht uninteressiert sind. Das ist natürlich etwas ganz anderes als ein handfester Interessenskonflikt…
Diese Strategie lässt sich – grosso modo – z.Zt. für zwei Arzneimittel erkennen, die „in aller Munde“ sind:
Molnupiravir
Das orale Virustatikum Molnupiravir, dem eine Verminderung schwerer Verläufe um rund 50% nachgesagt wird, wurde am 4.11.2021 im UK zugelassen und soll 700 USD pro 10-tägiger Behandlung kosten. Nach Angaben der US-Pharmaunternehmen Merck, Sharp & Dohme und Ridgeback Biotherapeutics, wird die Substanz als „fehlerhaftes“ Ribonukleosid-Analogon in das Erbgut von neu entstehenden Coronaviren eingebaut und hemmt über diesen Weg den Befall weiterer Zellen.
Die Zitate “Historic day for this country – game changer – groundbreaking treatment” könnten vom Hersteller MSD stammen, sie kamen aber aus dem Munde des britischen Gesundheitsministers Sajid Javid. Bis auf die Tatsache, dass er ein treuer Diener seines Herren, des politisch wild umherfuchtelnden Premiers Boris Johnson ist, ganz bestimmt ein absolut neutraler Mann. Ehrlich…
Paxlovit
Die Kombination aus zwei Proteasehemmern (PF-07321332 und – aus der HIV-Therapie bekannt – Ritonavir) des HerstellersPfizer; vorgesehener Handelsname des in Tablettenform verfügbaren Medikamentes: Paxlovit.
Obwohl auch hier die RCT-Daten noch nicht begutachtet vorliegen, wurde die Ankündigung einer Zulassung bei der FDA genau zu dem Zeitpunkt verlautbart, als sich bestimmte Medien in der Lobpreisung von Molnupiravir überschlugen. Diese Entwicklung galt es zu stoppen – aus der Sicht des Unternehmens eine folgerichtige Einschätzung.
Auch die monetären Folgen blieben nicht aus, was die nachfolgende Grafik (Bloomberg) aus dem vorbörslichen Handel mit Pfizer-Aktien verdeutlicht
Zu diesem Proteasehemmer, dem gar eine Wirksamkeit bei der Verhinderung schwerer Verläufe von >90% nachgesagt wird, gibt es wenigstens eine Publikation, die vor wenigen Tagen in Science erschien (An oral SARS-CoV-2 Mpro inhibitor clinical candidate for the treatment of COVID-19 https://t1p.de/ihby. Nein, es handelt sich dabei nicht um die Zahlen aus dem (noch nicht beendeten) RCT, sondern um weitgehend präklinische Daten.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich würde mich natürlich unbändig freuen, wenn wir ein sehr wirksames und sicheres, oral oder als Spray applizierbares Arzneimittel für den ambulanten Bereich zur Verfügung hätten. Allein mir fehlt solange der Glaube, bis ich eine begutachtete Publikation gelesen habe.
Spätestens an dieser Stelle sollte man an wirksame und bereits lange (für andere Indikationen) zugelassene Arzneimittel wie Budesonid und Fluvoxamin erinnern – bei Covid-19-Kranken off-label zu verordnen. Aktuelle Quellen für die entsprechenden Studien:
Budesonid („Inhaled budesonide for COVID-19 in people at high risk of complications in the community in the UK (PRINCIPLE): a randomised, controlled, open-label, adaptive platform trial“) – Lancet 10.8.2021 https://t1p.de/kebr. Kosten für 100 Sprühstöße à 400mcg 48 € (reicht bei einer 14-Tagestherapie mit 2x800mcg/d für mehr als zwei Patienten)
Fluvoxamin („Effect of early treatment with fluvoxamine on risk of emergency care and hospitalisation among patients with COVID-19: the TOGETHER randomised, platform clinical trial“) – Lancet Global Health, 27.10.2021https://t1p.de/dn50i. Kosten für 100 Tabletten Fluvoxamin 100mg: 25,64 € (reicht bei einer 10-Tagestherapie mit 2x100mg/d für fünf Patienten!).
Mein „Coronastapel“ ist noch lange nicht abgearbeitet, aber für heute mache ich einfach mal … Schluss.
Herzliche Grüße
Michael M. Kochen
Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP
Emeritus, Universitätsmedizin Göttingen
Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
AG Infektiologie und Leitliniengruppe Neues Coronavirus, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
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