Der Facharzt für Innere Medizin und für Allgemeinmedizin Michael M. Kochen berichtet in der Februar-Ausgabe seiner Newsletter „MMK-Benefits“ über die fälschliche Darstellung des AstraZeneca Impfstoffs. Prof. Kochen legt dar, warum sich die Wirksamkeit der Covid-Impfstoffe nicht substanziell unterscheidet:
Der deutsche Mediziner Prof. Dr. med. Michael M. Kochen präsentiert in seiner Newsletter MMK-Benefits regelmäßig hausärztlich relevante Studienergebnisse. Prof. Kochen hat seine Newsletter dem Institut für Allgemeinmedizin und Sonderausbildung zu Verfügung gestellt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
es begann am 25. Januar 2021, vier Tage vor der Zulassung des Vektor-Impfstoffs von AstraZeneca (AZD1222) durch die Europäische Zulassungsbehörde EMA. Da berichtete das Handelsblatt, die Vakzine habe bei älteren Personen lediglich eine Wirksamkeit von 8% – und bezog sich auf anonyme Quellen in der Bundesregierung. Bundesgesundheitsminister Spahn wollte die Meldung nicht kommentieren.
Am 26. Januar berichtete die US-amerikanische Zeitschrift Politico, die 8% seien wohl eine groteske Falschmeldung, die Zahl bezöge sich auf den Anteil der über 65-Jährigen in der Zulassungsstudie (was das BMG dann bestätigte).
Am Tag der Zulassung von (AZD1222) wechselte das Handelsblatt seine Titelstory – nicht aber in Richtung einer Korrektur. Die ungewisse Mär wurde aufrechterhalten.
Kompliziert wurde die ganze Angelegenheit dadurch, dass
- die EMA eine EU-Zulassung ohne Altersbegrenzung erteilte,
- die STIKO aber in ihrer Empfehlung (nur für Personen von 18-64 Jahre) sagte, für über 65-Jährige fehlten ausreichende Daten.
- Zulassung aber bedeutet, dass die Verimpfung der Vakzine für Personen jeden Alters legal und nicht etwa off-label ist.
- Empfehlung bedeutet, dass sich im Falle eines Falles niemand daran halten muss. In der Realität aber halten sich alle Impfzentren daran: Diejenigen der 750.000 Lehrer:innen oder Erzieher:innen (inzwischen in der Priorität hochgestuft), die über 65 Jahre alt sind, kommen auf den Impf-Anmeldeportalen nicht an einen Termin. Die m-RNA-Impfstoffe sind vorläufig für über 80-Jährige (und oft auch für Ärztinnen und Ärzte) reserviert.
Ab dem 15.2. kamen dann Meldungen, die Nebenwirkungsrate von AZD1222 führe zu so starken unerwünschten Wirkungen, dass ganze Krankenhausabteilungen und Praxen wegen arbeitsunfähig gemeldeten Mitarbeiter:innen zeitweise schließen mussten (…). Vor dem Hintergrund dieses Geschehens sollte man sich daran erinnern, dass die Studienanlage chaotisch organisiert war:
- Zunächst war man von einer Impfdosis ausgegangen und erweiterte später auf zwei Dosen.
- Nachträglich wurde festgestellt, dass einige Tausend Studienteilnehmer nur die Hälfte der vorgesehenen Dosis erhalten hatte und die Wirksamkeit dieser Gruppe (halbe 1. Dosis + ganze 2. Dosis) deutlich besser war als die Vergleichsgruppe (2x ganze Dosis).
- Vier Studienteile (2x UK, 1x Südafrika, 1x Brasilien) wurden in einem Text kompiliert usw. usf.
Vorläufige Zwischenbilanz:
Bis zum heutigen Tag wurden 1.4 Millionen Dosen von AZD1222 geliefert und ganze 238.556 verimpft – über eine Million Dosen lagern unverbraucht in den Depots.
Um die Geschichte vorläufig abzuschließen, wurden gestern (24.02.21 Anm. d. Red.) neue Daten aus (praktisch ganz) Schottland auf einem Preprint-Server publiziert (beim Lancet eingereicht, aber noch nicht begutachtet): „Effectiveness of first dose of COVID-19 vaccines against hospital admissions in Scotland: national prospective cohort study of 5.4 million people“ https://t1p.de/276c. Sie zeigen klar, dass AZD1222 mindestens so gut bei älteren Personen wirkt wie der Biontech-Impfstoff.
NB: Wie die Mainzer Firma inzwischen klarstellte, kann ihre Vakzine bei deutlich höheren Temperaturen (als ursprünglich mitgeteilt) gelagert, problemlos transportiert und in fertigen Spritzen aufgezogen, sechs Stunden lang zwischen 2 und 30° verwendet werden.
Quintessenz:
- Die in der EU zugelassenen Impfstoffe unterscheiden sich nicht in ihrer Wirksamkeit, AZD1222 ist auch bei älteren Personen gut wirksam.
- Die stärkste unerwünschte Reaktogenität der AstraZeneca-Vakzine tritt meist bei der ersten Dosis auf, bei den m-RNA-Impfstoffen vorwiegend bei der zweiten Dosis.
- Diese Nebenwirkungen fallen bei älteren Menschen aufgrund des alternden Immunsystems (Immunoseneszenz) deutlich geringer aus als bei jüngeren Personen.
- Bei der Verabreichung von AZD sollte man alle zu impfenden Personen über die Möglichkeit einer hohen Reaktogenität aufklären und die mögliche Einnahme z.B. von bis zu 4x1g Paracetamol (ggf. auch Metamizol), beginnend unmittelbar nach Impfung erwähnen. Das in der Zulassungsstudie prophylaktisch verabreichte Paracetamol sehe ich persönlich eher skeptisch (in Influenza-Impfstudien führte das z.T. zu abgeschwächter Antikörperbildung). Einen guten Überblick über „Paracetamol im Alter“ hat Natalie Marty kürzlich in der pharmakritik veröffentlicht (angehängt – mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Etzel Gysling).
- Janssen-Cilag International N.V. (Johnson & Johnson) hat am 15. Februar bei der EMA einen Antrag auf bedingte Zulassung für seinen Impfstoffkandidaten (eine Einzeldosis) eingereicht. In überschaubarer Kürze dürften wir in Deutschland vier zugelassene Vakzine haben.
- Die STIKO wird (erst) nächste Woche tagen, um eine Neubewertung der Daten vorzunehmen – die vorläufigen Zahlen der J&J-Vakzine wohl inklusive.Es wäre mehr als erstaunlich, wenn dabei die Alters-Empfehlung für AZD1222 18-64 unverändert bliebe.
Die Hausärzteschaft sollte sich darauf einstellen, in Kürze dem lahmenden Impfgeschehen auf die Beine zu helfen – mit allen zugelassenen Impfstoffen. Es wäre gut, wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Patienten darüber aufklären würden, dass sich Wirksamkeit und Reaktogenität der Vakzine nicht substantiell unterscheiden.
Die ausgezeichnet recherchierten Texte zu AZD1222 des arznei-telegramms https://t1p.de/xqlm und des Arzneimittelbriefs https://t1p.de/58tq sind frei verfügbar.
Herzliche Grüße
Michael M. Kochen
Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP
Emeritus, Universitätsmedizin Göttingen
Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
AG Infektiologie und Leitliniengruppe Neues Coronavirus, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft