Welches Risiko gehen Geimpfte ein, wenn sie im Gefühl der (vermeintlich) absoluten Sicherheit ihre Maske abnehmen und wie gefährlich ist die sogenannte. „indische“ Variante des Coronavirus? Der Mediziner Michael M. Kochen geht in seiner aktuellen Newsletter unter anderem diesen Fragen nach.
Der deutsche Mediziner Prof. Dr. med. Michael M. Kochen präsentiert in seiner Newsletter MMK-Benefits regelmäßig hausärztlich relevante Studienergebnisse. Prof. Kochen. hat seine Newsletter dem Institut für Allgemeinmedizin und Sonderausbildung zu Verfügung gestellt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
heute müssen Sie mit einem deutlich längeren Benefit als normal rechnen … (…) Bei einigen Themen bin ich heute etwas tiefer eingestiegen, z.B. bei den Fragen, wie gefährlich die sog. „indische“ Variante B.1.67 ist oder welches Risiko Geimpfte eingehen, wenn sie im Gefühl der (vermeintlich) absoluten Sicherheit ihre Maske abnehmen. Vielleicht sind Sie ja schon im lang ersehnten Urlaub und haben etwas mehr Muße zum Lesen. Beginnen wir mit den Kapiteln zu Corona:
Maske ab für Geimpfte?
Angeblich haben die Centers for Disease Control (US-amerikanische Gesundheitskontrollbehörde, Äquivalent zum RKI) allen voll geimpften Personen verkündet, die Maske sei jetzt überflüssig. Das hat in einigen Medien zu einem aufgeregten Echo geführt. Abseits von der offiziellen Verlautbarung bemühen sich seriöse Zeitungen und Zeitschriften um Aufklärung ihrer Leserschaft.
Die New York Times lässt dazu drei Expert*innen aus verschiedenen Fachdisziplinen zu Wort kommen, deren nicht immer ganz übereinstimmende Antworten aus meiner Sicht sehr konzise und differenziert ausfallen:
- Den Aerosolforscher Linsey Marr (Virginia Tech)
- Die Mikrobiologin und Virologin Juliet Morrison (UC Riverside)
- Die Epidemiologin Caitlin Rivers (Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health)
Ausgewählte Leserinnen und Leser der New York Times stellen Fragen zu folgenden Situationen:
- Eine Frau lebt in einem Bundesstaat, in dem nur 29% der Bevölkerung geimpft sind und will wissen, wann sie ihre Maske ablegen kann.
- Eine andere Frau fragt, wie die Maskenlosigkeit auf umstehende (ungeimpfte) Kinder wirke.
- Eine Leserin wurde auf eine Hochzeitsfeier in geschlossenen Räumlichkeiten eingeladen und fragt nach dem Risiko einer Maskenabnahme beim Essen und Trinken am gemeinsamen Tisch mit Ungeimpften.
- Eine weitere Leserin will auf die Abschlussfeier ihres Sohnes gehen, bei der zehn Impfverweigerer teilnehmen. Maske abnehmen?
- Ein Friseur arbeitet in einem Salon, in dem eine der Angestellten Impfverweigerin ist; eine Bäckerin will wissen, wie sie sich verhalten soll, wenn Kunden mit Maske, aber unbekanntem Impfstatus in den Laden kommen.
- Wie hoch sind die Gefahren im Flugzeug?
- Kann man in einem großen Chor singen, bei dem man den Impfstatus der Mitsänger*innen nicht genau kennt?
- Ein Patient mit Multipler Sklerose hat nach Impfung keinen vollen Antiköperschutz entwickelt und sucht nach Orientierung.
Lesen Sie die Antworten in der New York Times.
Das ist der Rat für den Augenblick. Ich möchte Ihnen ja die Stimmung für den beginnenden Sommer und die laufende Wiederbelebung des öffentlichen Raums nicht verderben. Aber die aktuellen Zahlen (und die entsprechende Inzidenz) in Deutschland sind deutlich höher als in der vergleichbaren Zeit des Jahres 2020. Die Zeichen am Horizont sehen nicht alle rosig aus (lesen Sie dazu das nächste Kapitel).
Maskenpflicht in Niedersachsen
Dass Niedersachsen die Maskenpflicht für den Einzelhandel in allen Regionen aufheben wollte, in denen die Inzidenz für fünf Tage unter 35 liegt, zählt aus meiner Sicht zu den einfallsreichsten Fehlgriffen der Saison. Eigentlich wollte ich der Landesregierung per Twitter zu dieser hochintelligenten Maßnahme … kondolieren, als glücklicherweise wenige Tage nach dieser Meldung der Beschluss bekannt wurde, dass das Land an der Maskenpflicht festhalte.
Die Wirksamkeit der Maske
Eine brandaktuelle Arbeit im Wissenschaftsmagazin Science, verfasst von Autor*innen aus Deutschland, China, den USA und Saudi-Arabien unter Federführung des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz konnte nachweisen, dass die Maske umso wirksamer ist, je niedriger die Viruskonzentration in Aerosolen und je häufiger andere Eindämmungsmaßnahmen wie Luftzirkulation, aber auch der korrekte Sitz der Maske sind.
Haben wir vielleicht alle schon gewusst oder geahnt, aber ein fundierter wissenschaftlicher Beleg ist immer noch besser als bloße Indizien („Face masks effectively limit the probability of SARS-CoV-2 transmission“)
Immer noch sehe ich beim Einkaufen, dass etliche Menschen icht wissen, wie man eine Maske korrekt trägt. Wenn ich mich gelegentlich dazu hinreißen lasse, z.B. auf den anpassbaren Nasenclip zu deuten, ernte ich meist erstaunte Blicke.
Die schon öfter beklagte Untätigkeit der dem BMG unterstehenden Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (s.a. „Aufklärung statt Kijimea“; Benefit vom 13.4.2021) kommt hier – besonders bei Menschen mit einer Migrationsgeschichte – besonders schmerzlich zum Vorschein. Natürlich haben solche Phänomene nichts mit ethnischer Herkunft oder Religion zu tun, sondern z.B. mit Bildungsnähe oder -ferne und den damit zusammenhängenden Sprachkenntnissen.
Wer wissen will, wie es im UK ausschaut, wo bisher rund 57% der Bevölkerung einmal und 34% zweimal geimpft wurden, sollte sich den kurzen, reich bebilderten Text der BBC ansehen.
Die Sicht auf die Maskenpflicht seit Ausbruch der Pandemie:
NB: Gerne blättere ich hin und wieder einmal in den früheren Benefits (seit 17. Januar 2020: n= 99), die sich auch oder ausschließlich dem Thema Corona widmeten.
- Selbstkritisch muss ich dann gestehen, dass auch ich, in guter Gesellschaft etlicher Wissenschaftler*innen, lange gegen Alltagsmasken votiert habe (zu einer Zeit als es einen eklatanten Mangel im medizinischen Bereich gab) – zuletzt vor gut einem Jahr, am 2. April 2020.
- Und weil wir schon dabei sind: Auch für die korrekte Händedesinfektion habe ich geworben (3 ml, 30 Sekunden einreiben). Die Technik hat sich seither nicht verändert und eigentlich ist es nicht schlecht, wenn man weiß, wie viel und wie lange…
- Allerdings hat sich schon frühzeitig im letzten Jahr herausgestellt, dass eine Schmierinfektion mit SARS-CoV-2 heute zu den absoluten Raritäten gehört (ich kann mich an keinen Fall in der Literatur erinnern). Da erstaunt doch immer wieder die Langlebigkeit einmal eingefahrener Gewohnheiten – wenn in Kaufhäusern oder in den jetzt wieder öffnenden Restaurants Desinfektionsspender an jeder Ecke stehen.
- Die meisten Menschen träufeln sich brav einen Spritzer in die Hand und haben wahrscheinlich ein gutes Gefühl dabei. Nur ganz Wenige gehen an solchen Symbolträgern ungerührt vorbei – sie ernten dann oft bitterböse Blicke von den Verantwortlichen für diesen (in der Häufigkeit unbegründeten) Nonsens. Wer z.B. zum Einkaufen geht: Auch nach dem Besuch mehrerer Läden reicht es vollkommen aus, sich die Hände zu waschen, sobald man nach Hause kommt.
(K)ein indisches Grabmal
Ich erinnere mich noch lebhaft an den gleichnamigen Abenteuerfilm von Fritz Lang, der 1959 in die deutschen Kinos kam und auf den gleichfalls berühmt gewordenen „Tiger von Eschnapur“ folgte. Ich war fasziniert… Leider hat die Realität Indiens (mit einem trotz gesetzlicher Vorgaben immer noch weitgehend intakten Kastensystem) nichts mit dem im Film vermittelten Bild zu tun.
- Täglich wird in den Medien vermittelt, dass das Land mit fast 1,4 Milliarden Menschen hohe Fall- und Todeszahlen aufweist. Nach letzten Seroprävalenzdaten sind rund 24% der indischen Bevölkerung mit Sars-CoV-2 durchseucht. Offiziell werden aktuell 26.751.681 positiv getestete Fälle und 303.751 Tote gemeldet. Das sind 218 Todesfälle/1 Million Einwohner; Deutschland hat mit 1047 Fällen/1 Mill. Einwohner fast fünfmal so viel.
- Zwar dürften die Meldedaten erheblich untertrieben sein, aber für ein Land dieser Größe sind diese Zahlen, selbst wenn sie ein Vielfaches betragen würden, im Vergleich zu vielen europäischen Ländern oder auch Brasilien eher moderat. Betrachtet man in den Fallportalen (Dashboards) die Zahl der Verstorbenen pro 1 Million Einwohner erscheinen auf den ersten zehn Stellen ausschließlich europäische Länder aus (acht der zehn liegen im Osten der EU).
Hier ein Screenshot aus https://www.worldometers.info/coronavirus/(25.5.2021)
Der Corona-Ausbruch zu einem Zeitpunkt, als (nicht nur) in Indien die Meinung vorherrschte, man habe das Gröbste überstanden, dürfte vorwiegend den Wahlkampfveranstaltungen der regierenden Bharatiya Janata Partei des indischen Premiers Narendra Modi zuzuschreiben sein (zu denen hunderttausende Menschen ohne Maske oder Abstand strömten). Auch die traditionelle Verbrennung von Leichen im Freien oder das rituelle Massenbad, z.B. in Varanasi am Ganges werden als Hotspots der Infektionsausbreitung gesehen.
Indien ist wie viele andere Staaten mit geringem oder mittlerem Einkommen von verbreiteter Armut (mehr als ein Viertel der Bevölkerung können sich keine ausreichende Ernährung leisten), hohem Bevölkerungswachstum, Korruption und grassierenden Volkskrankheiten gebeutelt.
“Die Apotheke der Welt”
Dabei sollte man nicht vergessen, dass das Land heute als „Apotheke der Welt“ gilt und für einen großen Teil der weltweiten Generikaproduktion verantwortlich zeichnet. Zudem stellt das Unternehmen Bahrat Biotech in Hyderabad einen im Lande entwickelten Totimpfstoff (Covaxin = Covishield®) her, zu dem es bislang allerdings keine guten Daten gibt. Er schützt, allerdings mit verringerter Wirksamkeit, auch gegen die Variante B.1.617.
Martina Scherf von der Süddeutschen Zeitung hat zum Problem des Hungers im Lande vor wenigen Tagen ein bedrückendes Interview mit einer Klosterleiterin geführt: „Die Leute sterben ja nicht nur an Covid, sie verhungern auch“.
- Infektionserkrankungen wie HIV/AIDS, Malaria oder Tuberkulose sind für 38% der Todesfälle, Diabetes oder Krebs für 42% Prozent der Todesfälle verantwortlich.
- Die hohe Zahl an Adipösen (die meist der Oberschicht angehören; „Wer nichts zu essen hat, wird nicht dick“) bzw. Diabetikern, aber auch die undifferenzierte Selbstbehandlung mit hohen Corticoiddosen, hat eine weitere, beängstigende Krankheit angefeuert, die sich in Indien parallel zu Covid-19 ausbreitet: Die Mukormykose.
Die Mukormykose
Diese potentiell letale, gefäßinvasive Pilzerkrankung, ist keineswegs neu: die älteste Übersicht, die ich finden konnte, ist vor 58 Jahren in der Schweizer „Praxis“ erschienen (37 Jahre vor der Digitalisierung der Zeitschrift). Die rasche Verbreitung im Lande hat zur Publikation einer ganzen Anzahl von wissenschaftlichen Artikeln geführt, die oft von indischen Autor*innen verfasst wurden (z.B.https://t1p.de/2×01 oder https://t1p.de/3ohg). Eine aktuelle Übersichtsarbeit im Journal of Fungi können Sie frei herunterladen.
Parallel zur Ausbreitung geht dem Lande (nach dem Sauerstoff) das Antimykotikum Amphotericin B aus, wie die Times of India berichtet: „Black fungus: Amphotericin B, the new oxygen as SOSs ring out“.
Alles zusammengenommen nicht gerade ermutigende Signale aus dem bevölkerungsmäßig zweitgrößten Land der Erde.
Prof. Dr. med. Michael M. Kochen
Die sog. „indische“ Variante B.1.617
Ob die geschilderte Entwicklung auch mit B.1.617 zusammenhängt (die Variante wurde von indischen Virologen erstmals im Oktober 2020 beschrieben), ist bislang noch keineswegs geklärt. Die Regierung in Neu-Delhi hat die Bezeichnung „indische Variante“ inzwischen unter Strafe gestellt… Inzwischen wurde B.1.617 in mehr als 40 Ländern nachgewiesen und wurde weltweit über 6.000 Mal sequenziert, z.B. im UK* n=3424 [6%; Steigerungsrate in der letzten Woche: 160%]
- in Indien n=962,
- in den USA n= 694,
- in Deutschland n=201 (2% aller Varianten; B.1.17: 87%).
*Das UK ist (zusammen mit Nordirland) von der Deutschen Bundesregierung inzwischen als Virusvarianten-Gebiet eingestuft worden. Für Einreisende gilt eine zweiwöchige Quarantänepflicht, die auch durch einen negativen Test nicht verkürzt werden kann.
Zurzeit sind von der Variante, die zwei Mutationen in der Rezeptorbindungsdomäne des Spike-Proteins aufweist, drei Subtypen bekannt. Die noch relativ spärlich publizierten Daten sprechen von einer deutlich, aber zahlenmäßig noch nicht genau zu beziffernden, erhöhten Infektiosität im Vergleich zu der (gegenüber dem ursprünglichen Wildtyp schon erheblich ansteckenderen) „britischen“ Mutante B.117. Ob daneben auch die genuine Pathogenität der Variante erhöht ist, ist im Augenblick unklar.
[Nur zur Erinnerung: Alleine ein erhöhtes Ansteckungsrisiko resultiert im Endeffekt immer in einer vermehrten Hospitalisierungsrate und erhöhten Todeszahl. In Bezug auf die Wirksamkeit der in Deutschland momentan verfügbaren vier (mit Curevac® in Kürze fünf) Impfstoffe weist B.1.617 ein leicht bis moderates Immun-Escape-Phänomen auf (postvakzinell entstandene Antikörper können in-vitro das Spike-Protein nicht mehr komplett neutralisieren). Die Impfstoffe sollten also weiterhin vor schweren Verläufen schützen, wozu auch die vermutlich nicht eingeschränkte, zellvermittelte Immunität beiträgt].In einer vor wenigen Tagen publizierten, noch nicht begutachteten Beobachtungsstudie von Public Health England („Effectiveness of COVID-19 vaccines against the B.1.617.2 variant“ https://t1p.de/dkiw) werden die Biontech/Pfizer und AstraZeneca-Vakzine bez. ihrer Wirksamkeit gegen symptomatische Covid-19-Erkrankungen mit der Untervariante B.1.617.2 mit der sog. „britischen“ Variante B.117 verglichen. Nach der ersten Dosis verringerte sich die Wirksamkeit* gegen symptomatische Erkrankungen deutlich:
- bei Biontech (BNT162b2) von 49.2% auf 33.2%,
- bei AstraZeneca (AZD 1222) von 51.4% auf 32.9%.
Nach der zweiten Dosis verringerte sich die Wirksamkeit* allerdings nur geringfügig:
- bei Biontech (BNT162b2) von 93.4% auf 87.9%,
- bei AstraZeneca (AZD 1222) von 66.1% auf 59.8%.
[* bekanntlicherweise ist eine Wirksamkeit von z.B. 90% nicht gleichbedeutend mit einem 90%igem Schutz der Geimpften. Die Zahl entspricht der relativen Risikoreduktion: In einer Studie wird das relative Risiko (RR) einer Infektion bei Geimpften und Ungeimpften als 1 – RR berechnet. Wirklich aussagekräftig wäre aber das Risiko in der Bevölkerung. Dafür müsste man die Absolutzahlen für das Risiko (ARR) in den beiden Gruppen nehmen und 1-ARR berechnen. Die so entstehenden Zahlen bleiben meist unerwähnt, weil sie nicht so eindrucksvoll erscheinen. Diese Zusammenhänge beschreiben drei Autoren aus Oxford im Lancet Microbe („COVID-19 vaccine efficacy and effectiveness—the elephant (not) in the room“ https://t1p.de/y1n2 – Danke an Bernhard Kehrwald für den Hinweis].Diese Resultate begründen die jetzt auch vom Chef der „britischen STIKO“ forcierte Verabreichung der zweiten Dosis (s. weiter unten).
Prof. Dr. med. Michael M. Kochen
- Gegen die Variante ist allerdings der (auch von der Deutschen Bundesregierung eingekaufte) monoklonale Antiköper Bamlanivimab nicht mehr wirksam https://t1p.de/emv0.
- Das RKI (das die Variante vor wenigen Tagen, ebenso wie die WHO und die ECDC, als besorgniserregend [variant of concern, VOC] eingestuft hat) schreibt dazu:
„Die Variante B.1.617 zeichnet sich durch Mutationen aus, die mit einer reduzierten Wirksamkeit der Immunantwort in Verbindung gebracht werden, wobei erste laborexperimentelle Daten darauf hindeuten, dass die Impfstoffwirksamkeit nicht substantiell beeinträchtigt ist. Außerdem gibt es Hinweise, dass einige der Mutationen dieser Variante ihre Übertragbarkeit erhöhen könnten, beispielsweise über eine Verstärkung der Bindung an die menschlichen Zellen. Insbesondere gibt es epidemiologische Hinweise darauf, dass die Untervariante B.1.617.2 eine erhöhte Übertragbarkeit aufweist, die zumindest der Übertragbarkeit von B.1.17 gleichkommt“.
- Im UK blickt man aufgrund der engen Beziehungen zu Indien und vielen Einreisenden aus der ehemaligen Kolonie, aber auch wegen der zunehmenden Wiederbelebung des öffentlichen Raums gespannt und mit großer Sorge auf die Entwicklungen: https://t1p.de/7jo0.
Mit Datum vom 14. Mai (letzte Mitteilung) rät Wei Shen Lim, Vorsitzender des Joint Committee on Vaccination and Immunisation (JCVI; entspricht bei uns der STIKO), dringend dazu:
- Die Impfgeschwindigkeit nochmals zu erhöhen und
- In den Regionen mit steigender Inzidenz der Variante (man höre) die zweite Impfdosis nicht nach 12 Wochen, sondern schon nach acht Wochen zu verabreichen https://t1p.de/qhso. Zu diesen Regionen gehört z.B. auch Blackburn und Bolton in Mittelengland – in diesen britischen Städten leben nach Aussagen von seriösen Twitter-Blogs viele Menschen in kleinen Wohnungen und von prekären Jobs, bei denen sie sich schlecht schützen können. [Dieses „Phänomen“ ist allerdings nicht auf das UK begrenzt, sondern ebenso bei uns zu finden].
Die Verfasser*innen fordern in dem in einfacher Sprache geschriebenen Text:
- Auf die beunruhigenden, aktuellen Corona-Wellen in Südamerika, Südasien und Afrika zu achten;
- Stärkere Grenzkontrollen zu installieren;
- Isolation und Quarantäne in Hotels zu verlagern (und nicht mehr zuhause verbringen zu lassen);
- Effektive Lüftungsanlagen zu einem der Kriterien für die Öffnung von Geschäften zu machen;
- Den Menschen in verständlicher, aber eindringlicher Sprache klar zu machen, welche Gefahren drohen. Das Gefühl „alles ist jetzt vorbei“ (Sommer 2020!!) sei höchst riskant.
Quintessenz
- Die Variante B.1.617 verdient aufgrund ihrer höheren Ansteckungsfähigkeit inzwischen das Prädikat besorgniserregend und ist weltweit auf dem Weg, die in vielen Regionen vorherrschende „britische“ Mutante B.1.17 zu verdrängen.
- Allerdings kennen wir noch nicht das konkrete Ausmaß der Infektiosität und wissen auch nicht, wann die Verdrängung in Deutschland bzw. anderen Ländern der EU stattfinden wird.
- Die verfügbaren Impfstoffe wirken auch weitgehend gegen die „indische“ Variante – aber nur, wenn die zweite Dosis gegeben wurde (das UK steuert gerade um).
Wer meint, die tendenziell fallenden Inzidenzahlen in Europa würden das Ende der Pandemie einläuten [der Sommer 2020 lässt grüßen], irrt gewaltig.
Prof. Dr. med. Michael M. Kochen
- Süd- und südostasiatische Staaten wie Thailand, Vietnam, Singapur, selbst die bislang fast ganz verschonte Insel Taiwan, aber auch Afrika und besonders Südamerika erleben eine unerwartete neue Welle mit massiv ansteigenden Fallzahlen.
- Inwiefern die neue hochansteckende Variante B.1.6.17 dabei eine entscheidende Rolle spielt, lässt sich augenblicklich nicht belegen. Fest steht jedoch, dass in vielen der betroffenen Länder die Vorsichtsmaßnahmen stark nachgelassen haben.
David Malpass, Präsident der Weltbank-Gruppe (eine multinationale Entwicklungsbank, die fünf Organisationen umfasst https://de.wikipedia.org/wiki/Weltbank) plädiert in einem Text für Project Syndicate (Project Syndicate ist ein weltweites, mehrsprachiges Meinungsportal, auf dem Wissenschaftler, Ökonomen sowie (überwiegend linksliberal orientierte) Politiker*innen schreiben) dafür, die weltweiten Impfanstrengungen auf drei Säulen zu stützen („Wie wir vorgehen müssen, um alle Länder zu impfen“ https://t1p.de/ickn]:
- Länder mit ausreichendem Impfstoffangebot sollten sofort Impfdosen für gefährdete Gruppen weltweit freigeben.
- Größere Transparenz bei den Verträgen zwischen Regierungen, Pharmaunternehmen und „Impfstofforganisationen“, um Finanzmittel wirksam zuzuteilen und die Verabreichung planen zu können.
- Ausweitung der Impfstoffproduktion.
- [Die Frage der Patentfreigabe lässt der Autor allerdings aus].
Wer an Situationsberichten aus Ländern des globalen Südens interessiert ist, dem empfehle ich z.B. die folgenden Portale bzw. Texte:
- AFRIKA: (https://afrika.info/corona/; „The first and second waves of the COVID-19 pandemic in Africa: a cross-sectional study“ (Lancet)https://t1p.de/4t8k; „Africa needs local solutions to face the COVID-19 pandemic“ (Lancet) https://t1p.de/itq6; „Excess COVID-19 mortality among critically ill patients in Africa“ (Lancet) https://t1p.de/72tj
- SÜDAMERIKA: („Poverty, precarious work, and the COVID-19 pandemic: lessons from Bolivia“ (Lancet Global Health) https://t1p.de/g3ds; „Effect of socioeconomic inequalities and vulnerabilities on health-system preparedness and response to COVID-19 in Brazil“ (Lancet Global Health)https://t1p.de/qsf7; Über die „Rückkehr des Landes in den strikten Lockdown“ berichtet aus Buenos Aires Christoph Gurk von der Süddeutschen Zeitung https://t1p.de/g25m.
- SÜDASIEN: („Bhutan’s experience with COVID-19 vaccination in 2021“ (BMJ Global Health) https://t1p.de/zu8n.
Beim Gesundheitsgipfel der G20-Staaten (Global Health Summit) vor wenigen Tagen in Rom haben Pharmafirmen die Lieferung von mehr als 2,3 Milliarden Impfdosen zum Selbstkostenpreis an arme Länder versprochen. Kanzlerin Merkel sagte, Deutschland werde weitere 30 Millionen Dosen spenden. Man wird sehen, ob das nur leere Worte sind. Die verabschiedete Rome Declaration finden Sie im Original unter https://t1p.de/104p.
Der World Health Summit (welch wunderbare verbale Verwirrung, s.o.), der sich vorrangig mit dem Thema Corona beschäftigen wird, findet online vom 27. – 30. Juni in Berlin statt https://www.worldhealthsummit.org/
Quintessenz: Uns allen muss klar sein, dass die Pandemie nie zu Ende sein wird, wenn nicht auch die gesamte Staatengemeinschaft mit einbezogen wird.
Prof. Dr. med. Michael M. Kochen
herzliche Grüße,
Michael M. Kochen
Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP
Emeritus, Universitätsmedizin Göttingen
Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
AG Infektiologie und Leitliniengruppe Neues Coronavirus, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft