Die Lage in der Ukraine, eine Akute Divertikulitis, Paracetamol und Bluthochdruck und natürlich Corona, das sind die Themen, die der Mediziners Michael M. Kochen in seinem Februar-Newsletter behandelt.
Der deutsche Mediziner Prof. Dr. med. Michael M. Kochen präsentiert in seinem Newsletter MMK-Benefits regelmäßig hausärztlich relevante Studienergebnisse. Prof. Kochen hat dem Institut für Allgemeinmedizin und Public Health seinen Newsletter zur Verfügung gestellt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, angesichts der Tatsache, dass mitten in Europa ein Angriffskrieg des russischen Chefautokraten Wladimir Putin auf die Ukraine tobt, fällt es mir außerordentlich schwer, ein „normales“ Benefit zu schreiben. Ich fühle mich in dieser dramatischen Situation aufgewühlt, angespannt und … hilflos. Vermutlich dürfte es vielen von Ihnen so gehen.
Bevor ich trotz der Umstände Sie über einige aus meiner Sicht wichtige Studien für die hausärztliche Medizin (zunächst aus dem Nicht-Corona- Bereich) informiere, rechne ich mit Ihrem Verständnis, wenn ich heute ein kleines Kapitel vorwegstelle:
Nachrichten FÜR die Ukraine
Spenden (eine kleine Auswahl):
- Ukraine-Hilfe Berlin e.V. – unterstützt Menschen in Not, Kriegsopfer und deren Angehörigen, und leistet Hilfe für medizinische und pflegerische Einrichtungen in der Ukraine. Die Arbeit erfolgt ausschließlich ehrenamtlich. www.ukraine-hilfe-berlin.de Spenden sind steuerlich absetzbar und können unkompliziert, z.B. über paypal abgewickelt werden.
- Das Bündnis deutscher Hilfsorganisationen „Aktion Deutschland hilft“ – Nothilfe Ukraine. Auch hier sind Spenden steuerlich absetzbar und können unkompliziert über verschiedene Zahlmöglichkeiten erfolgen.
- Weitere Organisationen findet man auf dieser Seite „Wie man der Ukraine JETZT helfen kann“.
Eine der am besten über die Ukraine informierten Personen in Deutschland ist Mischa Gabowitsch – Historiker, Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Einstein Forum in Potsdam.
- Auf seiner Website gibt er zahlreiche gute Ratschläge, was man im Alltag für die Ukraine tun kann. Darunter auch: Nicht „die Russen“ verteufeln – die russische Bevölkerung steht nicht hinter dem von ihrem Führer und seiner Clique vom Zaun gebrochenen Krieg. Nur ein Beispiel für eine herausragend mutige Aktion ist der offene Brief von 400 russischen WissenschaftlerInnen.
Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens vier Millionen UkrainerInnen in den angrenzenden Nachbarländern der Europäischen Union, aber auch in Deutschland Zuflucht suchen könnten.
- In Polen hat sich eine Initiative gebildet, wie man Gastfreundschaft unkompliziert realisieren kann. Gleiches tut sich auch in Deutschland, wie die Webseite „Unterkunft für Menschen aus der Ukraine“ zeigt. Wer Geflüchtete beherbergen will, kann sich hier melden.
Unter den zahlreichen Meldungen über die Auswirkungen des Konflikts (z.B. Verlegung von internationalen Sportveranstaltungen aus Russland) fand ich eine Mitteilung besonders interessant. Es geht um Valery Gergiev, Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, ein bedingungsloser Freund und Sympathisant von Wladimir Putin. Er hat 2014 in einem offenen Brief die Annexion der Krim befürwortet.
Gergiev gibt noch bis zum 15. März an der Mailänder Scala ein Gastspiel mit Tschaikowskys “Pique Dame”. Mailands Bürgermeister Beppe Sala teilte am 24.2. in Abstimmung mit dem Intendanten der Scala, Dominique Meyer, mit:
“Wir bitten den russischen Maestro, klare Position gegen die russische Invasion zu beziehen. Tut er das nicht, sind wir gezwungen, diese Zusammenarbeit aufzugeben.”
Danach stellte Münchens OB Dieter Reiter im Einverständnis mit Orchestervertretern dem Dirigenten ein Ultimatum, dass er entlassen würde, wenn er sich nicht von Putins Krieg distanziert. Auch die Wiener Philharmoniker haben das ursprünglich geplante Gastspiel Gergievs in der New Yorker Carnegie Hall abgesagt.
Nach dem Vorbild der polnischen Telekom und von T-Mobile USA macht die Deutsche Telekom (inkl. Congstar) rückwirkend ab dem 23. Februar 2022 und vorerst bis zum 31. März 2022 alle Anrufe und SMS in die Ukraine kostenfrei. Das gilt für Festnetz und Mobilfunk.
Die ukrainische Künstlerin Dasha Marchenko hat im Jahre 2015 Putin aus 5.000 Patronenhülsen portraitiert und Ihr Werk „Face of War“ genannt. Das Portrait wurde am 23.2. von mehreren Zeitungen veröffentlicht, in den USA z.B. von der Washington Post, in Deutschland u.a. von der Süddeutschen Zeitung.
Akute Divertikulitis??
Stellen Sie sich bitte folgendes, nicht erfundenes, Szenario vor: Ein (bis auf einen erfolgreich behandelten M. Parkinson gesunder und fieberfreier) 73-jähriger Mann stellt sich mit gelegentlich auftretendem, „Seitenstechen“ und einer moderaten Obstipation in einer hausärztlichen Praxis in der Hauptstadt eines südlichen Bundeslandes vor. Nach einer, wie der privat versicherte Patient berichtet, kurzen, orientierenden körperlichen Untersuchung erfolgt eine Blutabnahme über 20 verschiedene Parameter (natürlich ist auch der Vitamin B12- und Vitamin D-Spiegel dabei…). Weder das Blutbild noch das CRP zeigen Auffälligkeiten, die auf einen entzündlichen Prozess hinweisen. Der Mann verlässt die Praxis mit besorgtem Gesichtsausdruck und folgenden schriftlichen Dokumenten, die ich nicht weiter kommentiere:
Diagnose: Akute Divertikulitis Rezept: Ciprofloxacin + Metronidazol, einzunehmen über 10 Tage Überweisung: CT des Abdomens
- 30% der Bevölkerung über dem Alter von 45 Jahren in den westlichen Industriestaaten weisen eine Divertikulose auf, bei 85+ steigt diese Zahl auf 60%. Bei geschätzt 25% dieser Population kommt es irgendwann in ihrem Leben zu einer Divertikulitis und von diesen verlaufen 75% unkompliziert.
- Beim akuten Krankheitsbild sind linksseitige Unterbauchschmerzen, Fieber, Obstipation oder Diarrhö führend. Ein komplizierter Verlauf ist durch Abszesse, Fisteln, Perforation oder Obstruktion gekennzeichnet. Der oben geschilderte Patient hatte nichts davon – der einzige, aber bedeutsame „Risikofaktor für einen komplizierten Verlauf“ war sein Status als Privatversicherter…
- Ganz abgesehen davon, dass der beschriebene Mann vermutlich (oder offensichtlich) keine Divertikulitis hatte, stellt sich die Frage, ob man eine solche ambulant mit oder ohne Antibiotika behandeln würde.
- Dazu haben vor kurzem spanische Autoren eine randomisierte offene Studie vorgelegt, in die 480 Patienten rekrutiert wurden, die sich mit entsprechenden abdominellen Beschwerden in einer Notaufnahme vorgestellt hatten. Bei allen zeigte das CT des Abdomens eindeutige Zeichen einer Divertikulitis.
- 238 Teilnehmer wurden sieben Tage mit 3x 875/125 mg Amoxicillin/Clavulansäure und 242 ohne Antibiotika behandelt. Eine Kontrolluntersuchung erfolgte nach 2, 7, 30 und 90 Tagen. Primärer Endpunkt war die Hospitalisierung, die bei den Antibiotika- Behandelten 5.8% und bei der Kontrollgruppe 3.3% betrug. [Mora-Lopez L, Ruiz-Edo N, Estrada-Ferrer O, et al. Efficacy and safety of nonantibiotic outpatient treatment in mild acute diverticulitis (DINAMO-study). Ann Surgery 2021; 274: e435-e442].
- Diese Studie ist keineswegs die erste und einzige Untersuchung zu dieser Frage. Neben weiteren RCTs und Beobachtungsstudien (z.B. https://t1p.de/8ful6; https://t1p.de/nzqpv; https://t1p.de/cl3e0; andere Publikationen, darunter ein Cochrane-Review aus 2012, stehen hinter einer Bezahlschranke) gibt es auch Leitlinien und Metaanalysen.
- Als Leitlinie nehme ich einmal die der AWMF von 2021 zur Hand (erstellt von Vertretern der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten sowie der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV).
- In dem lediglich 144 Seiten langen und 584 Literaturzitate umfassenden Werk, geschrieben von 12 Autoren und 26 Kollaborateuren (ja, Sie haben richtig gelesen) lassen sich die für hausärztliche Bedürfnisse essentiellen Feststellungen nur mit Mühe auffinden.
- Das US-amerikanische Pendant der American Society of Colon and Rectal Surgeons (2020) ist da schon erheblich übersichtlicher und mit 19 Seiten sowie „nur“ 168 Zitaten erheblich leichter zu verdauen.
- Vor diese Auswahl gestellt würde ich aber weder das eine, noch das andere konsultieren, sondern das entsprechende Kapitel in Deximed: Es ist topaktuell (14.2.2022), konzise und auf hausärztliche Leserinnen und Leser zugeschnitten.
Quintessenz:
Alle wissenschaftlichen Untersuchungen kommen unisono zum Ergebnis, dass die Behandlung einer unkomplizierten Divertikulitis i.d.R. ohne Antibiotika möglich ist. Dazu sollten folgende Aspekte beachtet werden:
- Die Erkrankung imponiert durch das entsprechende klinische Bild, sowie eine deutlich erhöhte CRP und eine Leukozytose. In Einzelfällen kann die CRP auch normal ausfallen.
- Die klinische Diagnose sollte durch eine Bildgebung abgesichert werden. Zwar gilt ein abdominelles CT immer noch als Untersuchungsmethode der Wahl, eine Ultraschalluntersuchung durch erfahrene KollegInnen oder ein MRT sind jedoch weitgehend ebenbürtig.
- Es bestehen keine signifikanten Begleiterkrankungen.
- Patienten sollten engmaschig beobachtet werden.
Kann Paracetamol den Blutdruck erhöhen?
Wenn man der „gängigen“ wissenschaftlichen Literatur der letzten Jahre folgt, könnte man den Eindruck gewinnen, dass Paracetamol in Bezug auf den Blutdruck völlig harmlos ist. Sucht man aber akribisch, stellt sich heraus, dass der erste Hinweis auf eine hypertensive Wirkung bereits vor fast 38 Jahren publiziert wurde. Zahlreiche, oft kleinere und methodisch anfechtbare Beobachtungsstudien (meist bei Schmerzpatienten) haben seither jedoch immer wieder darauf hingewiesen, dass es eine entsprechende Dosis-Wirkungs-Beziehung gibt: Je höher die eingenommene Paracetamol-Dosis, je stärker der Blutdruckanstieg.
Wissenschaftliche Untersuchungen in der Vergangenheit zeigen, dass die Neuverordnung von Antihypertensiva bei >8% mit einer Paracetamol- Begleitmedikation einhergeht.
Gerade haben AutorInnen aus dem schottischen Edinburgh in Circulation eine randomisierte Studie bei schmerzfreien, hypertensiven Patienten publiziert.
- 110 Teilnehmer, deren erhöhter Blutdruck bislang nicht oder bereits medikamentös behandelt wurde, wurden per Zufall in zwei Gruppen eingeteilt:
- Gruppe 1 erhielt 4×1 g/d Paracetamol, Gruppe 2 Plazebo, jeweils über zwei Wochen. Danach erfolgte eine 14-tägige „washout“- Periode, danach wurden die Gruppen gekreuzt: Die Plazebogruppe erhielt Paracetamol, die Paracetamolgruppe Plazebo – wiederum über 14 Tage.
- Zu Beginn und am Ende jeder Behandlungsphase erfolgte eine 24- Stunden-Blutdruckmessung, zusätzlich wurde der Blutdruck bei jeder der vier Ambulanztermine gemessen.
- Beim Vergleich der beiden Gruppen zeigte sich, dass unter Paracetamol der Blutdruck signifikant um systolisch 4.7 mm Hg und diastolisch um 1.6 mm Hg stieg.
- Würde man diesen Effekt anhand bekannter Evidenz „übersetzen“, stiege bei chronischer Einnahme die Mortalität an einem zerebralen Insult um 15%, an einer KHK um 9% und die Gesamtsterblichkeit um 7%.
Die Ergebnisse lassen sich allerdings nicht ohne weiteres verallgemeinern: Es bleibt unklar,
- ob der beobachtete Effekt bei chronischer Einnahme unverändert anhalten würde,
- ob sich bei Personen ohne Hypertonie dieselben Wirkungen zeigen und
- ob die langfristige Einnahme niedrigerer Dosen vergleichbar ausgeprägt wäre (in Deutschland scheint die Tendenz in Richtung 3g/d als Maximaldosis zu gehen).
Die Originalstudie „Regular Acetaminophen Use and Blood Pressure in People With Hypertension: The PATH-BP Trial“ können Sie leider nicht frei herunterladen.
Corona: Kurzmeldungen
Die STIKO empfiehlt nach abgeschlossener COVID-19- Grundimmunisierung und erfolgter 1. Auffrischimpfung eine 2. Auffrischimpfung (frühestens 3 Monate nach der 1. Auffrischimpfung) mit einem mRNA-Impfstoff für:
- ≥ 70-Jährige,
- BewohnerInnen und Betreute in Einrichtungen der Pflege,
- Personen mit Immundefizienz,
- Tätige in medizinischen Einrichtungen und Pflegeeinrichtungen, hier jedoch frühestens 6 Monate nach der 1. Auffrischimpfung. In begründeten Einzelfällen kann hier die 2. Auffrischimpfung auch bereits nach frühestens 3 Monaten erwogen werden.
- Die wissenschaftliche Begründung kann man hier nachlesen.
- Die Entscheidung beruht u.a. auf Daten aus Israel, die bislang in einem (noch nicht begutachteten) Preprint vorliegen: „Protection by 4th dose of BNT162b2 against Omicron in Israel“.
Auf die Gleichwertigkeit von Impfung und durchgemachter Infektion (Cave: nur Alpha und Delta, kein Omikron) weist eine neue Studie in Nature Medicine aus der Virologie des Klinikums r.d.I der TU München hin:
- „Three exposures to the spike protein of SARS-CoV-2 by either infection or vaccination elicit superior neutralizing immunity to all variants of concern“
- Zum selben Thema nimmt die Gesellschaft für Virologie in ihrer 3. aktualisierten Stellungnahme zur Immunität von Genesenen Stellung (14/02/2022).
Zu dem oral einnehmbaren Virustatikum Paxlovid (Nirmatrelvir + Ritonavir) ist jetzt – lang erwartet – die Originalstudie im New England Journal of Medicine erschienen („Oral Nirmatrelvir for High-Risk, Nonhospitalized Adults with Covid-19“).
- Die Arzneimittelkombination kann nach Angaben der KBV seit dem 25.2. verordnet werden.
- Was man tun kann, wenn man im Alltag mit den zahlreichen Wechselwirkungen konfrontiert wird, haben Autoren der Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie des Universitätsklinikums Heidelberg in Zusammenarbeit mit der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker in einer Grafik aufgearbeitet (Anhang).
- Die hier bei einigen Arzneisubstanzen aufgezeigte (mit 30% wenig wirksame und potentiell mutagene) Alternative Molnupiravir sehe ich explizit kritisch.
Die US-amerikanischen National Institutes of Health haben in einer Grafik aufgezeigt, welche Reihenfolge sie bei der Behandlung von nichthospitalisierten Risikopatienten empfehlen.
Bei dieser Reihenfolge ergibt sich allerdings ein potentielles Problem mit Sotrovimab:
Die ansteckendere, aber nicht stärker pathogene Omikron-Variante BA.2 gewinnt (in praktisch allen Ländern) zunehmend die Oberhand gegenüber BA.1. Laut dem letzten Wochenbericht des RKI (Datenstand 21.2.2022) beträgt die Häufigkeit von BA.1 75.4%, die von BA.2 bereits 23.7%.
Zwei Preprints weisen nun darauf hin, dass Sotrovimab als bislang einzig gegen Omikron wirksamer monoklonale Antikörper gegen die Sublinie BA.2 nicht oder nicht mehr voll wirksam sein könnte: https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2022.02.07.479306v1 https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2022.02.15.480166v1
Schon lange nicht mehr gehört, aber noch in vielen Köpfen gespeichert ist die Frage der Sterblichkeit von Covid-19: „An oder mit“.
Das deutsche COVID-19 Autopsy Registry (DeRegCOVID) wurde im April 2020 aufgelegt und hat jetzt einen interessanten Bericht publiziert. Demnach sind 86% der Corona-Todesfälle durch SARS-CoV-2 verursacht, in 14% war die Infektion eine Begleiterscheinung.
Herzliche Grüße
Michael M. Kochen
Prof. Dr. med. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP
Emeritus, Universitätsmedizin Göttingen
Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
AG Infektiologie und Leitliniengruppe Neues Coronavirus, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
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